16 Jahre Russland gehen nicht spurlos an einem vorbei. Neben dem russischen Hang zur Ironie und vor allem zu Sarkasmus (wohlgemerkt nicht Zynismus, was ja in Deutschland immer verwechselt wird, siehe P.S.) hat mich die Zeit dort vor allem gelehrt, zwischen den Zeilen zu lesen. Das ist bitter nötig bei Politikern, die ihr politisches Handwerkszeug in sozialistischen Kaderorganisationen gelernt haben. Wie Wladimir Putin. Und eben auch Angela Merkel, die aus einem stramm kommunistischen Elternhaus stammt und bei der FDJ Sekretärin war (Hinweis für Westdeutsche: Das bezog sich nicht auf einfache Schreibtätigkeiten, sondern auf eine aktive Tätigkeit als Kader, vor allem bei Zuständigkeit für „Agitation und Propaganda“ – ganz im Gegensatz zu den Millionen FDJ-Karteileichen).
In unzähligen Neujahrsansprachen und anderen Auftritten von Wladimir Putin, die regelmäßig wie aus dem Windkanal wirken und auf den ersten Blick den Eindruck eines Idealbilds vermitteln, habe ich mir angewöhnt, mikroskopisch auf die Zwischentöne zu achten. Auf die kleinen Schlupflöcher, die entweder die Redenschreiber übersehen haben, oder die nachträglich noch entstanden sind. Denn mit dem Rest ist es genauso wie mit einer Predigt in der Kirche: Sie sind fast immer gut anzuhören, aber es ist eine Glaubensfrage, ob man sie für bare Münze nimmt.
Genauso ist es auch mit Merkels Neujahrsansprache 2021. Insofern hat die Berichterstattung über die Ansprache in den meisten Medien für mich Züge von einem Gottesdienst – steckt sie doch voller Glauben. Fast am gesamten Inhalt gibt es formal wenig zu rütteln, jeder andere Kanzler hätte es wohl ähnlich gehalten, wenn auch nicht ganz so emotions- und empathiearm (übrigens auch ein Zug, der die beiden Ex-Kader Merkel und Putin verbindet – zumindest bei der Empathie, denn Emotionen kann der Kreml-Chef durchaus zeigen, wenn auch selten). Nur äußerlich fiel die Kanzlerin aus dem Rahmen. Ihr Seidenoutfit erinnert an Puyi: Chinesische Kaiser trugen goldene Seidengewänder.
Aufhorchen lassen haben mich vor allem drei Worte: Merkel sagte nicht ohne Wenn und Aber, dass es ihre letzte Neujahrsansprache ist. Sie fügte als „Airbag“ die Worte „aller Voraussicht nach“ ein. Ich glaube nicht, dass das Zufall oder ein Versehen ist. Hartnäckig hält sich in der Hauptstadt das Gerücht, dass Merkel im Herbst nicht abtreten wird (siehe hier, hier und hier). Szenarien dafür gibt es mehrere, bis hin zur Verschiebung der Bundestagswahl (siehe hier und hier). Für mich weckt Merkels Formulierung den Verdacht, dass es eine Nebelkerze ist: Zumal sie zuvor noch darauf verweist, sie werde nicht mehr zur Bundestagswahl antreten. Das klingt beruhigend, ist aber geschenkt: Als Kanzler(in) kann jeder gewählt werden, auch jemand, der nicht Mitglied des Bundestags ist.
Bei den meisten westlichen Politikern würde ich diese Worte Merkels nicht auf die Goldwaage legen. Bei jemandem, der die sozialistische Kaderschule durchlaufen hat, sehr wohl. Würde Merkel nicht zumindest mit dem Gedanken spielen, weiter zu machen – sie wäre gar nicht auf die Idee gekommen, das so zu formulieren. Ob sie sich dabei einfach verplappert hat oder auf geschickte Weise ein Hintertürchen offen ließ, wissen wir nicht. Ich persönlich glaube bei der kühlen Machtpolitikern Merkel eher weniger an einen Versprecher – zumal an einen wiederholten. Auch Wladimir Putin nutzt regelmäßig ähnliche Methoden bzw. verbale Hütchenspiele, wenn es um seine Zukunftspläne geht. Insofern könnte das Jahr 2021 also noch spannender werden, als gedacht.
Ein zweites Mal stutzen musste ich bei dieser Formulierung Merkels: „Auch ich werde mich impfen lassen, wenn ich an der Reihe bin.“ Sinngemäß genau identisch mit der Aussage Putins. Die Kanzlerin will also nicht symbolträchtig voran schreiten wie Israels Premier Netanyahu. Sie versteckt sich hinter der „Warteschlange“ und einer Gummi-Formulierung. Denn wann sie „an der Reihe“ ist, ist ein sehr dehnbarer Begriff. Eine Reihe kann sich immer verschieben.“
Regelrecht erschrocken bin ich bei dieser Aussage Merkels: „Ich kann nur ahnen, wie bitter es sich anfühlen muss für die, die wegen Corona um einen geliebten Menschen trauern oder mit den Nachwirkungen einer Erkrankung sehr zu kämpfen haben, wenn von einigen Unverbesserlichen das Virus bestritten und geleugnet wird. Verschwörungstheorien sind nicht nur unwahr und gefährlich, sie sind auch zynisch und grausam diesen Menschen gegenüber.“
Ein fein gesetzter Vernichtungsschlag gegen ihre Kritiker. Die Kanzlerin weiß haargenau, dass die Medien seit Monaten den Menschen suggerieren, jeder Kritiker der Corona-Maßnahmen sei ein Corona-Leugner. Und nun bezeichnet sie diese als „Unverbesserliche“. Und stellt sie als „grausam“ hin. Assoziationskette geschlossen. Kritik an ihrer Corona-Politik erfolgreich assoziativ diffamiert, ja beinahe pathologisiert. Demokratie unterscheidet sich dadurch von autoritären Staatsformen, dass man Kritiker nicht als „Unverbesserliche“ und „Grausame“ vom Diskurs auszuschließen sucht, sondern sie ernst nimmt. Das scheint Merkel allen Sonntagsreden zum Trotz innerlich nie begriffen zu haben. Ganz offen gestanden: Wenn ich die Worte „zynisch und grausam“ höre, die Merkel nutzt, sind es nicht ihre Kritiker, an die ich unvermittelt denken muss. Eher schon daran, dass sie jetzt, wo Deutschland so gespalten ist wie noch nie, wo unsere Gesellschaft regelrecht zu zerreißen droht, noch weiter Öl ins Feuer gießt statt zu versöhnen. Und zwar des Machterhalts willen.
Und noch eine dritte Stelle fand ich entlarvend: Als Merkel die Menschen lobte, die in ihren Augen dafür sorgten, „dass unser Leben trotz Pandemie weiter möglich war“, benannte sie nicht nur diejenigen „in den Supermärkten und im Gütertransport, in den Postfilialen, in Bussen und Bahnen, auf den Polizeiwachen, in den Schulen und Kitas, in den Kirchen“. Nein, sie erwähnte explizit auch diejenigen „in den Redaktionen“. Das wäre völlig okay, hätten die großen Medien ihre Aufgabe erfüllt und die Regierung kontrolliert. Da sie zum Großteil aber genau das Gegenteil machten, zu Verlautbarungsorganen der Regierung wurden und diese vor Kritik von den Bürgern in Schutz nahmen, ja die Bürger kontrollierten, klingt Merkels Formulierung ausgesprochen entlarvend.
Meine große Hoffnung für 2021 ist, dass wir zum Jahresende einen Kanzler bekommen, dessen Neujahrsrede man nicht mehr mit viel Erfahrung aus dem (Post-)Sozialismus dechiffrieren muss.
Und genauso hoffe ich natürlich wie so oft, dass ich mich mit meiner sehr kritischen Sichtweise irre, in Wirklichkeit nur das Gras wachsen höre und einfach zu sehr in meiner Moskau-Erfahrung verfangen bin. Denn im Gegensatz zu all den neuen Wahrheitsministerien (neudeutsch „Faktenchecker“) und allwissenden Kollegen kann ich Ihnen keine „Wahrheit“ anbieten und bin mir der Fehlerwahrscheinlichkeit meiner Sichtweise und Meinung durchaus bewusst. Weswegen ich Ihnen wie immer rate, sich aus unterschiedlichen Quellen zu informieren und selbst abzuwägen.
P.S:) Zynismus ist, wenn jemand einen anderen zu Boden geworfen hat, und ihn mit Füßen tritt, und der Täter dabei sagt: „Das gefällt Dir!“ Sarkasmus ist, wenn das Opfer sagt: „Das gefällt mir.“ In Deutschland wird Sarkasmus leider regelmäßig mit Zynismus verwechselt – obwohl beide unterschiedlicher eigentlich kaum sein könnten.
Bild: oatawa/Shutterstock
Text: br
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