Von Alexander Wallasch
Der Email-Dienste-Anbieter GMX informiert seine Nutzer zusätzlich über neue Nachrichten. Die Überschrift eines Artikels lautete jetzt:
Forscher: „Großteil der Infizierten scheidet Gen-Material über den Stuhl aus“
„Gen-Material“ meint hier über die menschlichen Ausscheidungen mit ausgebrachte menschliche DNA. Und es wird berichtet, dass Forscher noch im Kot eines Eiszeit-Pumas die ältesten Genspuren eines Parasiten gefunden hätten.
Aber so weit brauchen wir gar nicht zurückzuschauen. Wissenschaftler arbeiten aktuell tief unten in der Kanalisation und stochern dort regelmäßig nach Proben menschlicher DNA.
Tatsächlich ist unser Abwasser zum Frühwarnsystem in der Corona-Pandemie geworden.
Die Nachricht selbst basiert auf Untersuchungsergebnissen eines Forschungsteams im Verbund mit dem Tropeninstitut des LMU Klinikums München. Wissenschaftler arbeiten gemeinsam an bzw. für ein abwasserbasiertes Frühwarnsystem.
Oder anders ausgedrückt: Während die Menschen da oben noch unbeschwert sind, will man jetzt schon über ihre Ausscheidungen ablesen, wann zukünftige Gefahren drohen. Im Ernstfall käme der nächste Lockdown-Befehl dann direkt aus der Kanalisation.
Die Forscher wollen übrigens anhand von Abwasserproben, die in einem Zeitraum seit dem 7. Dezember genommen wurden, schon erkannt haben, dass sich die Omikron-Variante (B1.1.529) schon viel früher in Deutschland etabliert hat und sich ausbreitet.
So schreibt besagtes Nachrichtenportal:
Man „fand in fünf von sechs Proben Genmaterial von Omikron – ein Hinweis, dass die Verbreitung der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als besorgniserregend eingestuften Variante Anfang Dezember schon größer war als angenommen.“
Aber wie bedeutsam ist das tatsächlich für ein realistisches Lagebild, wenn Infizierte Virusfragmente über den Stuhl ins Abwasser ausscheiden und diese dann dort entdeckt werden?
Aus München heißt es dazu in einer Pressemitteilung:
Das Münchner Projektteam analysiert seit April 2020 erst ein- und inzwischen zweimal wöchentlich Proben aus der Münchner Kanalisation. Die Proben werden im Labor mittels RT-PCR (reverse transcription polymerase chain reaction) und Genomsequenzierung untersucht. Da Infizierte über ihre Ausscheidungen zumindest Fragmente des Coronavirus ausscheiden, lässt sich das Genmaterial von besorgniserregenden Virusvarianten mit modernen molekularen Analysen des Abwassers nachweisen.
Ein Vorwurf an das Pandemie-Management der Regierung lautet ja regelmäßig, dass es ihr einfach nicht gelingen will, flächendeckend Testungen zu unternehmen, die eine valide Lageeinschätzung erlauben.
GMX schlussfolgert bereits Folgendes aus den Untersuchungen aus München: „Trends und Anteile von Varianten lassen sich deutlich schneller erkennen als über individuelle Testungen in der Bevölkerung.“
Das allerdings klingt im Zusammenhang mit dem Versagen der Regierung bei den Testungen wie ein Freispruch dank Abwasser-Monitoring.
Schon seit April 2020 sammeln die Fachleute im Verbundvorhaben mehrmals wöchentlich Proben aus Kanalisationen und Kläranlagen. Ein von der Münchner Klinik dazu mitgeliefertes Foto will allerdings bezüglich der Zuverlässigkeit noch nicht recht überzeugen, wenn da Kollegen mit Blechdosen und Eimerchen hantieren.
Frank-Andreas Weber vom Forschungsinstitut für Wasser- und Abfallwirtschaft an der RWTH Aachen sagt im Gespräch mit der freien Autorin Marie Illner, was es mit diesem „anonymen Massentest“, wie es Weber nennt, auf sich hat:
Der Großteil der Infizierten scheidet Genmaterial über den Stuhl aus, entsprechend kann man Spuren des Virus im Abwasser nachweisen.
Beinahe flapsig ergänzt Weber: „Ins Testzentrum geht nicht jeder, auf die Toilette aber schon.“ Damit wäre dann auch die Frage des Datenschutzes beantwortet. Jedenfalls vorausgesetzt, die Proben werden nicht einer bestimmten Abzweigung der Kanalisation zugeordnet.
Da tun sich Abgründe auf, wenn man diese Idee weiter spinnt: Noch kann man Tests ja verweigern, aber spätestens, wenn es „drückt“, muss man Farbe bekennen.
Nein, das hier ist keine Glosse, aber die Grenzen werden unfreiwillig fließend.
Nun muss man kein Wissenschaftler sein, um zu erkennen, wie ungenau diese maximal verdünnten Stuhlproben zunächst sein müssen. Es geht also gar nicht nur darum, diese Proben aufwendig zu identifizieren. Es geht auch nicht darum, etwa einen Wissenschaftspreis auszuloben, wer darin mehr findet, als Fragmente – also die Vase und nicht nur die Scherben.
Die große Unbekannte steht wie der sprichwörtliche Elefant im Raum, wenn es darum geht, die vielen Einflussfaktoren im Klärsystem zu eliminieren. Selbst noch jeder Regenguss verwässert da gewissermaßen das Ergebnis, Hochrechnungen nähern sich schnell mal dem Blick in die Glaskugel an.
Das tangiert Frank-Andreas Weber aber überhaupt nicht: „Wenn es beispielsweise starke Regen-Ereignisse gab oder die Industrie in der Ferienzeit weniger produziert hat, korrigieren wir das.“ Selbstsicher geht genau so.
So wird auch nach bestimmten Einzugsgebieten analysiert: „Es lässt sich allerdings nicht hochrechnen, wie viele absolute Corona-Fälle es in einem Einzugsgebiet gab“, betont Weber gegenüber dem Nachrichtenportal.
„Mit dem Reagenzglas in der unbehandelten Kloake, so oder ähnlich muss man sich die Probenentnahme zu Studienzwecken wohl vorstellen“, schrieb die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schon 2018 über eine Art Drogenscreening via Abwasser.
Abwasser-Daten sollen laut Münchner Projektteam eine Vorlaufzeit von sieben bis zehn Tagen haben im Vergleich zu den überirdisch ermittelten offiziellen Fallzahlen, die mehr Vorlauf benötigen.
Bezogen auf die neue Omikron-Variante soll der Abwasser-Befund so schon auf lokale Anteile von bis zu 3 Prozent hinweisen, wo das Robert Koch-Institut noch von etwa 0,6 Prozent Omikron-Anteil an den Gesamtinfektionen spricht.
Aktuell werden an sieben Kläranlagen Proben entnommen, an die etwa vier Millionen Menschen angeschlossen sind. Weitere 20 Standorte sind bereits im Aufbau. Von einer Intensivierung eines Meldesystems mit den Gesundheitsämtern ist ebenfalls die Rede, die damit, so Weber, wichtige Informationen für „ihre Entscheidungsfindung“ bekommen.
Angela Merkel sagte 2015 als amtierende Bundeskanzlerin: „Daten sind der Rohstoff der Zukunft.“ Man dürfe sie daher nicht als Gefahr sehen, sondern als Teil der realen Welt „wie Kohle und Stahl“. Jetzt kommt also auch noch Sch… dazu.
Und was das zukünftig bedeuten könnte, mag man sich kaum vorstellen, wenn so ganz leicht festgestellt werden kann, dass Wohneinheit A in Wohnblock B wieder zu viel Fleisch konsumiert hat, also die Bewohner abgeführt werden müssen, um abzuführen.
Mein aktuelles Video aus der Bundespressekonferenz
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Bild: Shutterstock
Text: wal
mehr von Alexander Wallasch auf reitschuster.de