Sie war allgegenwärtig: Die britische Mutante. Und Berichte über sie, in denen der Eindruck erweckt wurde, sie sei tödlicher als der ursprüngliche SARS-CoV-2-Virus. Die Schlagzeilen dazu flößten Angst ein. „CORONAVIRUS – Briten-Mutation ist ansteckender UND tödlicher“, titelte etwa die „Bild“ in riesigen Lettern am 22. Januar. Weiter hieß es in dem Text: „Die erstmals in England nachgewiesene Coronavirus-Mutante B.1.1.7 ist nach britischen Erkenntnissen offenbar tödlicher als frühere Virus-Varianten. Es gebe mittlerweile ‘Hinweise‘, dass die Mutante nicht nur ansteckender sei, sondern auch „mit einer höheren Sterblichkeitsrate in Verbindung gebracht werden“ könne, sagte Premierminister Boris Johnson am Freitagabend in London.“ All das verfestigte sich dann noch: „STUDIE ZU B.1.1.7 – Corona-Mutante ist um 64 Prozent tödlicher“, hieß es ebenfalls in der Bild am 10. März in Großbuchstaben. Weiter stand im Text: „Es war befürchtet worden. Jetzt gibt es Studien-Daten, die zeigen: Die Corona-Mutante B.1.1.7, die auch in Deutschland inzwischen dominiert, ist tatsächlich erheblich tödlicher als frühere Corona-Varianten. Für ihre am Mittwoch in der Fachzeitschrift BMJ veröffentlichte Studie analysierten Forscher der britischen Universität Exeter die Krankheitsverläufe von 55 000 Menschen, die zwischen Oktober und Januar positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Ergebnis: In 4,1 von tausend Fällen führe eine Infektion mit B.1.1.7 zum Tod. Bei früheren Coronavirus-Varianten liegt die Sterberate hingegen bei 2,5 von tausend Fällen.“
Die Liste entsprechender Schlagzeilen, die Angst machen, ließe sich schier unendlich fortsetzen. Aber ich will Sie nicht ermüden. Ebenso lang wäre die Liste auf Hinweise auf die britische Mutante in den vielen Bundespressekonferenzen, die ich besucht habe. Die angeblich so gewachsene Gefahr durch die „Virus-Variante“ von der Insel wurde immer wieder als wesentlicher Grund dafür genannt, dass der Lockdown verschärft werden muss. Angela Merkel bezeichnete sie noch am 4. März als „tödlicher“. Am 29. März fragte ich Merkels Sprecher Seibert: „Sie sprechen sehr viel von einer dritten Welle. Mit der dritten Welle, in der wir uns befinden bzw. die anfängt, werden sehr viele der Maßnahmen begründet. Großbritannien, das sehe ich gerade, hat keine dritte Welle. Die Deutsche Welle schreibt, weder in Großbritannien noch auf der iberischen Halbinsel gebe es eine dritte Welle.“ Die Antwort des Regierungssprechers auf meine Frage: „Nun haben wir aber eine andere, eine neue Pandemie. Denn wir haben jetzt eine ganz andere Mutation, die in Deutschland absolut dominant geworden ist und die nicht nur ansteckender, sondern auch gefährlicher ist.“
Dann fragte ich: „Was macht man dort anders, und was machen wir falsch, dass wir in der dritten Welle sind?“ Seibert antwortete: „Für uns ist relevant, mit dem umzugehen, was sich uns hier als Herausforderung stellt, und das ist in der Tat eine dritte Welle, verursacht nicht durch das ursprüngliche Virus, sondern durch die Mutation. Die Kanzlerin hat mehrfach darauf hingewiesen. Wenn wir es ’nur‘ mit dem ursprünglichen Virus zu tun hätten, dann hätten die sehr strengen Maßnahmen des Winters die Infektionszahlen jetzt schon drastisch gesenkt, sodass wir wahrscheinlich in einer ganz anderen, sehr viel positiveren Situation wären.“
Und jetzt das: Ein guter Freund, altgedienter, erfahrener Journalist und regelmäßiger „Bild“-Leser, schickt mir das folgende Foto:
Der Kommentar des Freundes: „Die verrückte BILD – erst groß von der britischen Mutante warnen und Angst schüren – jetzt kommt heute diese kleine Meldung.“
Nachdem drei Studien eine höhere Tödlichkeit nahelegten, kommen nun zwei neue Untersuchungen mit Krankenhauspatienten zu einem anderen Ergebnis. Die britische Mutante soll zwar ansteckender sein – aber viele Mediziner halten das für eine normale Entwicklung bei einer Mutation. Der Arzt Zacharias Fögen hat bereits im Januar auf meiner Seite einen kritischen Beitrag zur britischen Mutante verfasst – nachzulesen hier. Fögen hinterfragt darin auch die These von der höheren Ansteckungsgefahr bzw. setzt diese in Kontext.
Online war die Meldung über die geringere Tödlichkeit der Virusvariante auf bild.de zunächst gar nicht zu finden. Was aber vielleicht an meinen Such-Fähigkeiten liegt. Wer weiß. Dafür gibt es in vielen anderen Medien Berichte über die neue Einschätzung der Tödlichkeit. Allerdings beherrschen sie nicht einmal ansatzweise so die Schlagzeilen, wie zuvor die Meldungen über die vermeintlich erhöhte Tödlichkeit. Strikt formal könnte man somit sagen: Journalistische Aufgabe erfüllt. Aber das greift zu weit. Die Gewichtung ist entscheidend. Wenn eine beunruhigende Meldung groß gebracht wird, also in großen Lettern Alarm geschlagen wird, muss auch die Entwarnung groß erfolgen bzw. die Hinweise auf die Entwarnung.
Dass dies nicht geschieht, zeigt beispielhaft, was gerade in unserer Medienlandschaft schiefläuft. Und wie viele Medien das tun, was höchst unverantwortlich ist: Ängste schüren. Und unsere Politiker bauen auf diese Ängste dann ihre Politik. Deutschland ist in einer höchst gefährlichen Angst-Schleife gefangen.
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Bild: Aha-Soft/Shutterstock
Text: red