Pharmastandort Deutschland in Gefahr Branche nimmt erste Arzneimittel vom Markt

Von Daniel Weinmann

Wenn Karl Lauterbach in dem von ihm verantworteten Bereich der Gesundheit ein Gesetz auf den Weg bringt, ist höchste Vorsicht angesagt. Ein besonders unrühmliches Beispiel ist das „Finanzstabilisierungsgesetz der gesetzlichen Krankenversicherung“, das nur mit viel Wohlwollen seinem Namen gerecht wird.

„Mit dem im Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmenpaket wird ein starker Anstieg der Zusatzbeitragssätze im kommenden Jahr verhindert“, brüstete sich die Bundesregierung im Oktober vergangenen Jahres, nachdem der Bundesrat das Gesetz abschließend gebilligt hatte.

Die Kritik der Experten folgte auf dem Fuß: „Glücklich ist außer den Mitgliedern der Ampelkoalition eigentlich niemand“, wetterte das „Deutsche Ärzteblatt“ nur wenige Tage nach der Verabschiedung des Regelwerks. Der Bundesgesundheitsminister habe alle Betroffenen vor den Kopf gestoßen: „Die Ärzteschaft protestierte gegen die Abschaffung der Neupatientenregelung, die Apothekerschaft gegen die Erhöhung des Apothekenabschlags, die Pharmaindustrie sieht den Standort Deutschland gefährdet und die Krankenkassen halten die Reform für ungeeignet, ihre Finanzprobleme über das akute 17-Milliarden-Euro-Loch hinaus nachhaltig zu lösen.“

Vier Arzneimittel fielen Lauterbachs Spardiktat bereits zum Opfer

Zwischenzeitlich sieht man erste Anzeichen dafür, dass das Spargesetz der Versorgung mit innovativen Medikamenten schadet. Patienten müssten mit „Therapieeinschränkungen leben, weil Arzneimittel aus dem Markt gehen oder gar nicht erst in Verkehr gebracht werden“, brachte der Vorsitzende des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller, Han Steutel, die Lage im „Handelsblatt“ auf den Punkt.

Mein Lesetipp

In nicht einmal einem Jahr fielen bereits vier Präparate Lauterbachs Spardiktat zum Opfer: Das HIV-Medikament Lenacapavir, das Hautkrebs-Therapeutikum Opdualag, Amivantamab gegen Lungenkrebs sowie Spevigo gegen die seltene Hauterkrankung Psoriasis, das erst vor wenigen Tagen vom Markt genommen wurde.

Laut den Herstellern kann der Gemeinsame Bundesausschuss keinen oder keinen hohen Zusatznutzen dieser Medikamente in der Behandlung feststellen. Die Pharmaunternehmen können somit keinen höheren Preis für ein Arzneimittel in der Erstattung verlangen als für ein Vergleichspräparat, so dass sich der Verkauf der Präparate nicht lohnt.

Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?

„Lauterbachs Gesetz ist keine gute Nachricht, weder für die Innovationskraft noch für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland“, monierte Neil Archer, Geschäftsführer von Bristol Myers Squibb Deutschland, in einem Meinungsbeitrag. Der Branchenkenner warnt vor „negativen Folgen für die Versorgung von Patienten“.

Dabei versprachen die Ampelmänner in ihrem Koalitionsvertrag „ein vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, und das altersabhängige Erkrankungen sowie seltene oder armutsbedingte Krankheiten bekämpft“. Der Bundesgesundheitsminister höchstselbst betonte mit Blick auf das Defizit gleich mehrfach, Pharmafirmen verschonen zu wollen und ausschließlich die Beitragszahler zu belasten. Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, wird sich Karl Lauterbach vermutlich einmal mehr sagen.

Ebenfalls passend zu dessen kopflosen Konzept erweckt das Krankenkassen-Spargesetz den Eindruck, als ob die Ausgabe für innovative Medikamente den Löwenanteil der GKV-Finanzen darstellt. Dabei beläuft sich der Netto-Anteil an patentgeschützten Arzneimitteln an den GKV-Gesamtausgaben ohne Berücksichtigung der Mehrwertsteuer und der Vertriebsmargen des Großhandels und der Apotheken laut der Deutschland-Landesleiterin von Boehringer Ingelheim, Sabine Nikolaus, gerade einmal auf sechs Prozent. Vor diesem Hintergrund von Kostentreibern zu reden, sei „etwas daneben“. Der 1885 gegründete Boehringer-Konzern bezeichnet sich selbst als „eines der weltweit führenden forschenden Pharmaunternehmen seit 130 Jahren“.

Branche droht mit Abwanderung

Roche-Deutschlandchef Hagen Pfundner geht noch weiter: „Ich bin als Unternehmer zutiefst besorgt, dass die einstige ‚Apotheke der Welt‘ jetzt einer schleichenden Deindustrialisierung zum Opfer fällt.“ Die Politik werde „in zehn, zwanzig Jahren“ alles daransetzen, mit viel Geld solche Wirtschaftszweige wieder ins Land zurückzuholen, prophezeit der Manager. Der Schweizer Pharmariese hatte Ende Mai Verfassungsklage gegen das Kassengesetz eingereicht.

Erst kürzlich hatte die Branche verstärkt damit gedroht, aus Deutschland abzuwandern. Sie klagt über hohe Hürden für die Forschung und politisch verordnete Einschnitte. Während etwa Bayer seinen Pharma-Schwerpunkt in die Vereinigten Staaten und nach China verlagern will, plant die während der Coronakrise von der Bundesregierung subventionierte Mainzer Firma Biontech ein neues Forschungszentrum in Großbritannien.

Weitere Unternehmen dürften Folgen – und den Bedeutungsverlust des Pharmastandorts Deutschland beschleunigen.

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Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.

Bild: Screenshot Adidas Pride 2023 Youtube-Video

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