Von Gregor Amelung
Am 8. September 2021 hieß es auf Twitter: „Heute morgen um 6.00 gab es eine Hausdurchsuchung. 6 Beamt*innen in der Wohnung. […] Sie wissen, dass zwei kleine Kinder in diesem Haushalt leben. Guten Morgen, Deutschland.“
Was war passiert?
Drei Monate zuvor. 30. Mai 2021. Es ist ein Sonntag. Das Thermometer in Hamburg misst noch recht kühle 12 Grad, als der NDR um 9 Uhr 39 twittert: „Tausende feierten am Samstagabend in der Schanze [= Hamburger Schanzenviertel]. Die Polizei räumte das Schulterblatt, dabei kam es zu Flaschenwürfen.“ Sechs Stunden später ist es in der Hansestadt mit 22 Grad frühlingshaft warm. Bezugnehmend auf die NDR-Meldung twittert Innensenator Andy Grote (SPD) nun: „In der #Schanze feiert die Ignoranz! Manch einer kann es wohl nicht abwarten, dass wir alle wieder in den Lockdown müssen … Was für eine dämliche Aktion! Danke @PolizeiHamburg, die wieder einmal den Kopf hinhalten, damit die Pandemie nicht aus dem Ruder läuft.“
Auf Grotes Tweet folgt eine Vielzahl von Antworten. Alleine schon deshalb, weil der Innensenator im Jahr zuvor die Corona-Regeln selbst missachte hatte, indem er seine Wiederernennung zum Senator zusammen mit 30 Leuten in einer Bar in der HafenCity gefeiert hatte (10.6.2020). Also in einem Innenraum, und bis Grote seinen Regelverstoß einräumte, sollten noch fast zwei Monate vergehen.
Ein „Getränk auf Abstand“
Zuerst erklärte ein Sprecher der Hamburger Innenbehörde: „Aus hiesiger Sicht war diese Form des Zusammenkommens regelkonform, weil es an einem nicht öffentlichen Ort stattfand und eben nicht den Charakter einer Feier hatte.“ Grote selbst bestritt ein mögliches Fehlverhalten und gab an, es sei erlaubt gewesen, sich mit bis zu 30 Personen auf ein „Getränk auf Abstand“ zu verabreden. Schließlich musste der studierte Jurist diese Igelstellung aufgeben und in einer Pressemitteilung am 4.8.2020 eingestehen, dass selbst die Bußgeldstelle seiner eigenen Behörde das Treffen als verbotene Veranstaltung gewertet hatte. Via Twitter ließ Grote wissen:
„In einer Zeit, in der immer noch strikte Regeln gelten und viele auf vieles verzichten, darf nicht der Eindruck entstehen, dass gerade ich als Innensenator es mit den eigenen Regeln nicht so genau nehme. Das Treffen war ein Fehler und ich entschuldige mich dafür ausdrücklich.“
Für seinen „Fehler“ musste Grote insgesamt 1.000 Euro Strafe zahlen, was er auch anstandslos tat. Angesichts seiner Einkünfte und der Tatsache, dass der Hamburger Bußgeldkatalog Zahlungen zwischen 150 und 25.000 Euro bei Corona-Regelverstößen vorsah, blieb bei einigen Hamburgern trotzdem ein schaler Beigeschmack übrig, weshalb sie ihrem Innensenator zusätzlich eine angemessen hohe Spende für einen wohltätigen Zweck anheimstellten. Allerdings ohne Erfolg.
„Party-Andy“, Du „Heuchler“, eine ,„unglaubliche Doppelmoral“
Und diverse Twitter-User hatten sowohl das als auch Grotes zweimonatiges Dementi noch recht gut in Erinnerung, als der sich für vollends geläutert haltende Innensenator am 30. Mai 2021 in den Wald hineingetextet hatte: „Ignoranz“ und „dämliche Aktion“. Zurück kam „Heuchler“.
Andere warfen Grote eine „unglaubliche Doppelmoral“ vor, duzten ihn als „Party-Andy“ oder fragten besorgt, ob er denn diesmal nicht eingeladen gewesen war? Besonders wütend zeigte sich ein User, der Grote zurückgetwittert hatte: „Eine Schande, dass du noch immer Mitglied beim FC St. Pauli bist. Dein Gebahren ist ekelhaft. DU hast gefeiert, als alle Kids sich zusammengerissen haben.“ Ein weiterer schloss sich der urbanen Wut über den Innensenator an, indem er schrieb: „Du bist so 1 Pimmel.“
Und auf eben diesen Tweet wurde das Social-Media-Team der Hamburger Polizei nach Informationen des Hamburger Abendblatts aufmerksam. Dort wird man wohl auch bemerkt haben, dass der User unter dem Pseudonym „ZooStPauli“ getwittert hatte, und dass es in seinem Profil weiter heißt: „Antifaschistisch und durstlöschend since 2014“ und „Hochoffizielle Social-Media-Abteilung einer nicht sonderlich erfolgreichen Kneipe“.
Das Social-Media-Team der Polizei Hamburg in Aktion
Daraus konnte man beim polizeilichen Social-Media-Team dann recht leicht ableiten, dass hier jemand mit Verbindungen zum gleichnamigen Pub »Zoo« im Stadtteil St. Pauli in die Tasten gehauen hatte. Und eben das bedeutet, dass der Twitter-User direkt oder indirekt zum Hamburger Schanzenviertel gehört und sich durch Grotes Aussagen („In der Schanze feiert die Ignoranz!“ usw.) sehr wahrscheinlich direkt angesprochen gefühlt hatte.
Der Pimmel-Tweet war also ein direkter Kommentar auf Grotes Äußerungen zuvor und keine losgelöste Beleidigung des Innensenators. Jenseits dessen hatte „ZooStPauli“ nicht die Hamburger Polizei und damit eben auch einzelne Polizeibeamte verbal attackiert, sondern „@AndyGrote“. Und unter diesem Profil heißt es recht eindeutig: „Hier twittern der Innen- und Sportsenator und sein Team (*ds).“
Trotz dieser Details hatte man beim Social-Media-Team der Polizei wohl doch den Verdacht, es bei „Du bist so 1 Pimmel“ mit einer Online-Beleidigung zu tun zu haben. So dass „ein Polizist“, so die Welt, wegen des Pimmel-Tweets Strafanzeige stellte.
„Hass und Hetze“ erkannt
Das ist in zweifacher Hinsicht verwunderlich. Erstens erkannte das Social-Media-Team der Hamburger Polizei bzw. der „eine Polizist“ in „Heuchler“, „Schande“ oder „ekelhaft“ offenbar keine Beleidigung und auch nicht Hass oder Hetze. Mit anderen Worten: Hier war das semantische Koordinatensystem der Hamburger Polizei schon etwas aus dem Lot geraten. Vergleichen Sie selbst: „Du bist 1 Heuchler“ – okay. „Du bist 1 Schande“ – okay. „Du bist so 1 Pimmel“ – nicht okay.
Zweitens ist Grote Politiker und Innensenator. Insofern muss er einen Teil der Hitze in der Küche schon auch aushalten. Das bringt das Amt mit sich. Grote ist nämlich gerade nicht Polizist, Rettungssanitäter oder Feuerwehrmann. Bei diesen könnte man den Schwellenwert niedriger ansetzen und in „Du bist so 1 Pimmel“ ohne jede weitere Betrachtung der Umstände eine Beleidigung erkennen.
Kommunizieren wie IKEA-Schilder
Es ist unhöflich, keine Frage. Frech, dreist, respektlos und rotzig kann man es auch nennen. Man kann sich auch verletzt und/oder beleidigt fühlen, aber es ist in dem Sinne keine Beleidigung, als dass Grote mit seinen Vorwürfen der „Ignoranz“ und „Dämlichkeit“ bereits den Raum der unhöflichen Unsachlichkeit betreten hatte.
Wenn nun – gerade nach Grotes Fauxpas 2020 – zurückgekommen wäre „selber dämlicher Ignorant“, hätte sich Andy Grote nicht beschweren können. Und zwischen dem unhöflichen aber weitgehend zutreffenden „selber dämlicher Ignorant“ und dem Schimpfwort „Pimmel“ liegen keine hundert Volt Hass und Hetze.
Unter diesen Umständen und der Vorgeschichte von „Party-Andys“ eigener „Ignoranz“ im Jahr zuvor fällt es schwer, hier bereits den Straftatbestand einer Beleidigung erfüllt zu sehen. Man ist – wenn überhaupt – ganz nah dran oder direkt auf der unteren Grenze. Dort, wo es ein schwerwiegender Fehler wäre, wenn der Staat mit dem Strafgesetzbuch eingreifen würde, denn damit würde er auch den Teil der Meinungs- und Redefreiheit betreten, in dem Satire und Polemik leben und gedeihen. In diesem Biotop muss einem nicht alles gefallen – vieles hier mag der eine oder andere als vulgär, ungehörig oder auch beleidigend wahrnehmen –, aber es sind eben auch die Würzmittel der Sprache. Ansonsten kommunizieren wir irgendwann wie IKEA-Schilder miteinander.
Beleidigung §185 Strafgesetzbuch
Trotzdem erkannte offenbar nicht nur der „eine Polizist“ sondern auch der gelernte Jurist Grote in dem besagten Tweet so etwas wie „Hass und Hetze“ und eine Online-Beleidigung. Denn bei dem „ZooStPauli“ vorgeworfenen Delikt handelt es sich nach §185 StGB um ein sogenanntes „Antragsdelikt“, das heißt die Strafverfolgungsbehörden können erst tätig werden, wenn der Betroffene selbst einen Strafantrag stellt. Und genau das tat Andy Grote, nachdem die Hamburger Polizei in der Sache Kontakt mit ihm aufgenommen hatte.
Überraschend an diesem Vorgang ist, dass Grote hier die Chance verpasste, den Deckel drauf zu machen, denn er musste als Politiker instinktiv wissen, dass eine Strafverfolgung des Pimmel-Tweets seinen eigenen, gerade erst in Vergessenheit geratenen Corona-Regel-Verstoß aus dem Jahr zuvor erneut in die Öffentlichkeit zerren würde. Aber anstatt sich darüber Gedanken zu machen, dass eine Strafverfolgung ihn als Politiker und in der Folge dessen auch das ihm anvertraute Amt des Innensenators beschädigen könnte, entschied sich Grote für den Strafantrag. Und zwar nach eigenen Worten offenbar in einer Art Vorbildfunktion, denn: „Politiker und andere, die in der Öffentlichkeit stehen und politisch aktiv sind, werden ständig mit Beleidigungen, Pöbeleien, mit Hass im Netz konfrontiert und […] wir raten eigentlich immer allen, Anzeige zu erstatten.“
1 Pimmel-Tweet und 3.000 untergetauchte Verbrecher
Das war zum einen irritierend, weil Grote hier in einer spontanen Amnesie in die Reihe alle jener schlüpfte, „die in der Öffentlichkeit stehen und politisch aktiv sind“, so als habe es sein undiskutables Verhalten 2020 nie gegeben. Zum anderen hatte Grotes Erklärung schon auch etwas Unappetitliches. Denn er stellte sich hier auf das selbe Niveau wie diejenigen, die im Netz teils tagtäglich und systematisch beleidigt, angefeindet oder sogar körperlich bedroht werden. Obwohl er mit seiner Vorgeschichte kaum zu dieser Opfer-Kategorie zählen dürfte. Genauso wenig ist Grote ein normaler Bürger, der an einem normalen Sonntag seine persönliche Meinung getwittert hatte und danach Opfer einer Online-Beleidigung geworden war. Ein Vorgang, bei dem es selbstverständlich angebracht ist, dass die zuständigen staatlichen Stellen in einer Art positiver Bestärkung dazu raten “Anzeige zu erstatten“.
Darüber hinaus wunderte einen noch die Keckheit des für die Sicherheit in der Hansestadt zuständigen SPD-Politikers. Die Hamburger Polizei hat nämlich in Sachen Kriminalität noch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen als mit Twitter-Usern, die ihrem Innensenator mit einem Pimmel-Tweet rotzfrech die Meinung geigen. So laufen in Grotes Verantwortungsbereich laut einem Bericht der Bildzeitung etwa 3.000 Verbrecher frei herum – mehr als es Zellen in Hamburger Strafvollzuganstalten gibt. „549 sind zur Fahndung ausgeschrieben, weil sie teils schwere Straftaten begangen haben. Der Rest (2.474) müsste Haftstrafen antreten, ist aber untergetaucht“, so Bild.de am 7. April 2021.
Mögliche Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit
Bei den durch Grotes Strafantrag losgetretenen Ermittlungen stellt sich nun offiziell das heraus, was man zuvor nur vermuten konnte: Der Twitter-Account „ZooStPauli“ gehört zur gleichnamigen Kneipe, die direkt am FC-St.-Pauli-Stadion liegt. Inhaber sind Mara K. und Marlon P., der zwei Monate nach dem Tweet auch eine polizeiliche Vorladung in der Sache bekam.
„Ich bin […] ins Polizeipräsidium gefahren, habe mich dort vorgestellt und erklärt, dass meine Ex-Freundin [Mara K.] nichts mit dem Tweet zu tun hat. Auf die konkrete Frage zu dem Tweet erklärte ich, dass ich mir erst rechtlichen Beistand suchen wolle. Die Polizistin erklärte mir damals, dass eine Vorladung das ,übliche Prozedere nach so einer Anzeige sei’“, erklärte Marlon P. in einem Interview mit der Zeit. Weiter berichtet die Hamburger Morgenpost, P. habe auf der Polizei „zugegeben, den Twitteraccount ‚ZooStPauli’ zu betreiben. Und die Beamtin habe ihm signalisiert, dass die Anzeige wahrscheinlich wegen Geringfügigkeit eingestellt werden würde, so die „TAZ“ am 8. September. Im ZEIT-Interview darauf explizit angesprochen, dass die „Polizistin […] sozusagen Entwarnung“ gegeben habe, erklärte Marlon P.: „Ich habe das aus ihrem lockeren Verhalten und ihren Aussagen mir gegenüber so interpretiert.“
Die Einstellung eines Verfahrens ist in der Praxis keine Seltenheit. Auch Nötigung, Bedrohung, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung oder Körperverletzung können in sogenannten „Bagatellformen“ auftreten und wegen Geringfügigkeit eingestellt werden.
Durchsuchungsbefehl beim Amtsgericht beantragt
Das sah die zuständige Staatsanwaltschaft in diesem Fall allerdings völlig anders und beantragte beim Amtsgericht einen Durchsuchungsbefehl, in dem es heißt: „Es ist zu vermuten, dass die Durchsuchung zum Auffinden von Beweismitteln führen wird, insbesondere von Speichermedien, mittels derer die in Rede stehende Nachricht versandt wurde.“ Wofür man die noch brauchte, wenn Marlon P. bereits zugegeben hatte, den Twitteraccount zu betreiben, verwundert. Auf Nachfrage der Hamburger Morgenpost, erläuterte die Polizei, Ziel der Durchsuchung sei es, festzustellen, wer konkret Zugriff auf den Twitter-Account hatte.
In einer zweiten Vorladung von P. sah die Staatsanwaltschaft offenbar kein geeignetes Mittel zur Klärung dieser Frage. Genauso wenig wie der zuständige Richter. Dem offenbar auch nicht in den Sinn gekommen war, dass eine derart robuste Art der Beweissicherung angesichts der Tat und ihrer Umstände vielleicht nicht verhältnismäßig sein könnte.
Mittwoch, 8. September. Etwa drei Wochen, nachdem Marlon P. der polizeilichen Vorladung gefolgt war. Bernhard-Nocht-Straße, Hamburg, etwa vier Fahrradminuten vom „Zoo“ entfernt. Sechs Beamte vollstrecken um 6 Uhr morgens den Durchsuchungsbefehl. „Eine Polizistin rammte sofort einen Fuß in den Spalt und fragte, wie viele Personen sich in der Wohnung aufhielten“, so schildert Mara K. die Situation. Im nächsten Moment seien die Beamten auch schon drinnen gewesen und hätten alle Räume durchsucht, so die TAZ. Laut P. durchsuchte ein „IT-Experte der Polizei“ das Smartphone und den Rechner seiner Ex-Freundin, während sich die „Kollegen über die schöne Aussicht“ unterhielten.
„Gesucht wurde das Gerät, mit dem „Du bist so 1 Pimmel“ unter einen Tweet von Andy Grote geschrieben wurde. [Die Polizisten] wissen, dass zwei kleine Kinder in diesem Haushalt leben. Guten Morgen, Deutschland.“ Da war es 8 Uhr 44.
Ermittlungspanne
Trotz des Aufwands bekam die Polizei P. selbst und damit das gesuchte „Gerät“ nicht zu fassen. „Ich bin zwar oft dort und auch immer noch offiziell dort gemeldet, wohne aber seit unserer Trennung provisorisch bei Freunden, bis ich eine neue Wohnung gefunden habe. Was in Hamburg bekanntlich nicht so einfach ist“, so Marlon P. gegenüber der ZEIT. Diese „Umstände“ wurden der Polizei noch vor der Vorladung telefonisch „mitgeteilt“, so P. weiter.
Eigentlich eine recht wichtige Information, um das „Speichermedium, mittels dessen die in Rede stehende Nachricht versandt wurde“, als „Beweismittel“ aufzufinden. Trotzdem hatte die Information offenbar nicht ihren Weg bis zur zuständigen Staatsanwaltschaft gefunden, so dass die ihren Durchsuchungsbefehl für die falsche Adresse beantragt hatte.
Peinlich – aber ein Glück für die Kinder, denn die waren bei ihrem Vater Marlon P. „Glimpflicherweise, denn so mussten sie nicht miterleben, wie sechs Polizisten frühmorgens ihr Zuhause durchsuchen. (…) Mittlerweile habe ich über meine Anwältin die Tat zugegeben, um den Druck aus der Sache zu nehmen und meine Familie vor einer möglichen weiteren Durchsuchung zu schützen“, so P.
#PimmelGrote
Nach der spektakulären Polizeiaktion gegen die Beleidigung von Innensenator Andy Grote trendeten im Netz die beiden Hashtags „Pimmelgate“ und „Pimmelgrote“. Neben reichlich Häme in Grotes Richtung kritisierten die User auch die Unverhältnismäßigkeit der Mittel. Daraufhin ließen die Hamburger Behörden verlautbaren, dass sich der Beschuldigte selbst „äußerst unkooperativ“ verhalten habe, womit er das Vorgehen der Polizei notwendig gemacht hätte.
Weiter berichtete das ebenfalls in der Hansestadt ansässige Magazin Stern: „Hausdurchsuchungen wegen Beleidigungen im Netz seien durchaus üblich, behaupten […] sowohl Polizei als auch Staatsanwaltschaft. Allein in diesem Jahr habe es ‚eine mittlere zweistellige Zahl’ solcher Zugriffe in der Hansestadt gegeben. Auf Nachfrage, was denn das konkret bedeute, heißt es, man führe darüber keine Statistik und könne das so genau dann doch nicht sagen.“
Autonome Entscheidung“ der Staatsanwaltschaft
Einen Tag nach der morgendlichen Hausdurchsuchung meldete sich dann noch der Beleidigte selbst zu Wort: „‚Dass in diesem Fall die Staatsanwaltschaft eine Durchsuchung veranlasst hat, ist deren autonome Entscheidung, auf die auch niemand von außen Einfluss nimmt.’ Natürlich gebe es schwerwiegendere Fälle, räumte [Grote] unter Hinweis auf rechtsextremistische Taten oder sexualisierte Übergriffe auf Frauen im Netz ein. Aber bei aller Berechtigung auch harter, verbaler Auseinandersetzungen müsse sich niemand beleidigen lassen, auch nicht im Netz“, so die Hamburger Morgenpost über die Haltung des Innensenators in der Angelegenheit.
Bei solchen Stellungnahmen war es kein Wunder, dass das „Pimmel-Gate“ einfach nicht aufhören wollte zu trenden. Ein User schrieb: „Was der Grote wohl macht, wenn schlimmere Beleidigungen kommen. Mami anrufen?“ Ein anderer retuschierte Andy Grotes Portraitfoto eine Eichel auf den Kopf. In der Hansestadt selbst tauchten die ersten Graffiti-Outlines mit „Pimmel-Andy“ auf und die Satire-Seite „Der Postillon“ legte mit einem Artikel nach. Überschrift: „Zeigen womöglich einen Pimmel: Google belegt Fotos von Andy Grote mit Jugendfilter“. Selbst die Washington Post schrieb über die Hamburger Polit-Posse.
Der eigentliche Skandal hinter der Posse
Tiefgründig war das alles nicht. Geradezu magnetisch zog der infantile Name vom „Pimmelgate“ den eigentlich notwendigen Ernst raus aus der Debatte und ihrer Berichterstattung. Der „Pimmel“ übertünchte den handfesten Skandal hinter der Polit-Posse, denn hier war es zu einer erschreckenden Überreaktion einer Staatsmacht gekommen, die in Hamburg offenbar von einem politisch instinktlosen Personal ohne Kompass geführt wird. Ein Trauerspiel, das leider sehr viel über die fortschreitende Erosion der Grundrechte erzählt. Zu diesen gehört neben der Meinungs- und Versammlungsfreiheit auch die Unverletzlichkeit der Wohnung – Artikel 13 Grundgesetz.
Wer dieses Recht für einen frechen Tweet schleift, hat entweder keine Ahnung oder keinen Respekt vor der historischen Errungenschaft, die solche Rechte darstellen. Sie wurden nämlich über viele Jahrzehnte mit Blut, Knast oder Flucht ins Ausland errungen. Real und nicht im Netz. So waren während der Revolution im März 1848 alleine in Berlin 240 Menschen getötet und rund eintausend verletzt worden. Das jüngste Opfer war damals zwölf, das älteste 74 Jahre alt. Umgerechnet auf die heutige Bevölkerungsdichte der Bundeshauptstadt wären das 2.722 Tote sowie rund 10.000 verletzte Berliner.
Sie alle wurden getötet oder verletzt im Kampf für Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Versammlungsfreiheit oder das längst in Vergessenheit geratene Briefgeheimnis. Eben darum ist es auch bedauerlich, dass ein Großteil der Presse über die Hamburger Posse eher mit einem Schmunzeln berichtet hatte, anstatt Innensenator Andy Grote zum Rücktritt aufzufordern. Und zwar mit todernster Miene und ohne den Anflug eines Lächelns auf den Lippen, weil der Name „Pimmelgate“ so putzig ist.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
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Text: Gast
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