Ein Gastbeitrag von Alexander Fritsch
„Die meisten großen Gedanken haben einen lächerlichen Anfang.“
(Albert Camus: „Der Mythos des Sisyphos“, 1942)
Hollywood liebt Verschwörungstheorien. Nein, warten Sie, das ist falsch: Es ist eine Untertreibung. Die US-Filmindustrie LEBT geradezu von Geschichten über finstere Mächte, düstere Pläne und geheime Intrigen.
„Die Personen und die Handlung dieses Films sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.“
Der Hinweis im Abspann soll irgendwelche Rechtsanwälte davon abhalten, irgendwelche Klagen für irgendwelche Menschen einzureichen, die sich in ihren Rechten – oder, heutzutage noch schlimmer: in ihren Gefühlen – verletzt fühlen, weil sie meinen, der Film handele eigentlich von ihnen und sie seien darin unvorteilhaft dargestellt.
Aber tritt man einen Schritt zurück, weg von den Abgründen des Persönlichkeitsrechts und der Schadensersatzindustrie und dem natürlichen Lebensraum erwerbsmäßiger Juristen, dann sieht man noch etwas anderes: Der Hinweis wäre gar nicht nötig, wenn es zwischen einem Film und einer „tatsächlichen Begebenheit oder Person“ keine Verwechslungsgefahr gäbe.
Die gibt es aber – und das viel öfter, als man so glaubt.
Das Leben schreibt die besten Geschichten. Manche sind so unglaublich, dass sie tatsächlich niemand glauben würde, wenn sie nur erfunden und nicht wirklich passiert wären. Wer hätte vor 1972 schon daran geglaubt, dass ein US-Präsident, mithilfe des Geheimdienstes und finanziert aus schwarzen Kassen, in das Wahlkampfbüro seines Gegenkandidaten einbrechen würde?
Dann kam Watergate.
Wer hätte vor 1987 schon daran geglaubt, dass ein US-Präsident heimlich Waffen an den Iran verkaufen lassen würde, um mit den Erlösen Waffen für Umstürzler in Nicaragua zu finanzieren? Und wer hätte es für möglich gehalten, dass die US-Geheimdienste es diesen Umstürzlern sogar erlauben würden, harte Drogen nach Amerika zu schmuggeln und auf den Straßen von Los Angeles zu verkaufen – um mit den Erlösen noch mehr Waffen für den Umsturz zu kaufen?
Dann kam die Iran-Contra-Affäre.
Wer hätte vor 2013 schon daran geglaubt, dass die USA quasi den gesamten Internetverkehr der Welt systematisch überwachen würden? Und wer hätte daran geglaubt, dass Großbritannien ausländische Staats- und Regierungschefs verbündeter Länder systematisch abhören würde?
Dann kam Edward Snowden.
Jede Wette, Drehbücher mit solchen Handlungen wären vor den Enthüllungen der jeweiligen Skandale als „zu unrealistisch“ abgelehnt worden. Die Journalisten, die diese Skandale enthüllt haben, wurden übrigens allesamt als Verschwörungstheoretiker verunglimpft, diffamiert und teilweise verfolgt.
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
(Walter Ulbricht – am 15. Juni 1961)
Die Verschwörungstheorie von heute ist die Regierungspolitik von morgen. Nicht immer, natürlich – aber oft, ernüchternd oft sogar. Eines der großen Mysterien unserer Zeit ist die scheinbar unerschütterliche Neigung erschütternd vieler Menschen, politische Aussagen zum Nennwert zu nehmen.
Dabei haben Politikersätze inzwischen eine geradezu atemberaubende Kurzlebigkeit. Der Twitter-Nutzer „Argo Nerd“ hat es zu einer kleinen Kunstform gemacht, das mit Collagen eindrucksvoll zu dokumentieren. Er stellt einfach nur Zeitungsschlagzeilen gegenüber: zum Beispiel „Spahn gegen Sonderrechte für Geimpfte“ (am 28. Dezember 2020) gegen „Spahn kündigt Sonderrechte für Geimpfte an“ (am 04. April 2021).
Die Halbwertzeit politischer Aussagen nimmt ab. Das gilt für Dinge, die angeblich niemals gemacht werden sollen und dann auf wundersame Weise doch gemacht werden. Das gilt umgekehrt auch für Dinge, die wortreich und werbeträchtig angekündigt werden und dann nie passieren.
„Wir handeln als Staat, damit wegen der Corona-Pandemie kein Unternehmen insolvent werden und kein Arbeitsplatz entfallen muss.“
(Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister – Mitte März 2020)
Ein Jahr später, im März 2021, waren dann eine halbe Million mehr Menschen arbeitslos als im Jahr zuvor. Knapp drei Millionen Kurzarbeiter, statt der sonst üblichen etwa 150.000, sind da noch nicht mitgerechnet. Die meisten von ihnen werden kaum in ihre Betriebe zurückkehren können – weil es diese Betriebe nach der Pandemie nicht mehr geben wird.
„Man würde mit dem Wissen von heute (…) keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen.“
(Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister – am 01. September 2020)
Gut drei Monate später, am 16. Dezember 2020, wurde der Einzelhandel dann erneut weitestgehend geschlossen. Bis heute ist er nur zu einem kleinen Teil wieder geöffnet.
„Eine weitere flächendeckende Schulschließung kommt nicht infrage.“
(Anja Karliczek, Bundesbildungsministerin – am 22. September 2020)
Knapp drei Monate später, am 16. Dezember 2020, wurden dann auch die Schulen wieder geschlossen bzw. es wurde die Präsenzpflicht ausgesetzt. Das sollte übrigens nur bis zum 10. Januar 2021 dauern. Es gilt noch immer.
„Es wird intensiv programmiert (…), und das soll dazu beitragen, dass die Unternehmen künftig dann auch schnell an das Geld rankommen, das sie für den November benötigen.”
(Olaf Scholz, Bundesfinanzminister – am 12. November 2020)
Heute, ein halbes Jahr später, sind von den 5,6 Milliarden Euro immer noch erst 4,7 Milliarden ausbezahlt. Das sind gerade einmal 84 Prozent. Ein halbes Jahr, für eine Soforthilfe.
„Wir müssen jede Woche Millionen impfen, im März schon am Ende des Monats, im April, im Mai, im Juni. Es wird bis zu zehn Millionen Impfungen pro Woche geben.“
(Olaf Scholz, Bundesfinanzminister – am 07. März 2021)
Am 28. April 2021 gab es täglich eine Million Impfungen – zum ersten Mal überhaupt. Für zehn Millionen Impfungen pro Woche hat Deutschland schlicht nicht genügend Impfstoff.
Wer nun offiziellen Verlautbarungen der Regierung mit der – angesichts solcher Erfahrungen ja durchaus nachvollziehbaren – Skepsis begegnet, wird inzwischen amtlich und aus Steuermitteln als Verschwörungstheoretiker verunglimpft:
„Achtung, Fake News! Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesgesundheitsministerium / die Bundesregierung würde bald massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte, helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“
(Offizieller Tweet des Bundesgesundheitsministeriums – vom 14. März 2020)
Acht Tage (!) später begann dann der erste Lockdown. Kein Irrtum, Sie haben sich auch nicht verlesen: nicht acht Monate später, nicht acht Wochen später. Gerade einmal acht Tage.
Eine Verschwörung ist eine geheime Zusammenarbeit von mindestens zwei Menschen zum Nachteil von mindestens einem weiteren Menschen. Rein begrifflich liegt also zum Beispiel eine Verschwörung vor, wenn die Bürger von einer Regierung koordiniert belogen werden.
Der natürliche Feind der Verschwörung ist die Unfähigkeit.
Wenn etwas Schlimmes passiert, sagt der Volksmund, dann stecke dahinter wesentlich wahrscheinlicher Inkompetenz als eine Intrige. Da mag was dran sein, die logistischen und vor allem intellektuellen Ressourcen für ein anständiges Komplott hat schließlich nicht jeder. Unfähigkeit dagegen steht prinzipiell allen zur Verfügung.
„Das Lächerlichste an vielen Verschwörungsmythen ist, dass die echt davon ausgehen, Regierungen wären kompetent genug, einen geheimen Plan auszuhecken und umzusetzen.“
(Twitter-Nutzer „Roberto“ – Tweet vom 17. März 2021)
Nun besteht die Menschheit allerdings nicht ausschließlich aus Schwachmaten, und auch in Regierungskörpern findet man durchaus das eine oder andere Gehirn. Auf Inkompetenz als Ursache allen Übels kann man sich nicht verlassen. Dass in den allermeisten Fällen KEINE Verschwörung dahintersteckt, heißt ja nicht, dass NIE eine Verschwörung dahintersteckt.
Also bleibt in jedem Einzelfall immer die Frage: War es ein Komplott, oder war es nur komplett blöd?
An einem Montagvormittag (es ist der 15. März 2021) schlägt Markus Söder vor, Politiker ganz gezielt mit dem Impfstoff von AstraZeneca zu impfen. Am Montagnachmittag (es ist immer noch der 15. März 2021) setzt die Bundesregierung die Impfungen mit AstraZeneca auf Empfehlung der Arzneimittelaufsicht vorsorglich aus.
Galoppierende Dummheit oder böse Absicht?
Die etwa 50.000 US-Amerikaner, die in der Region Kaiserslautern leben, werden statistisch NICHT als Einwohner erfasst. Wenn aber einer von ihnen positiv auf Corona getestet wird, dann WIRD er im (vom Robert-Koch-Institut berechneten) Inzidenzwert erfasst. Im Ergebnis müssen die Menschen in Kaiserslautern schärfere Einschränkungen hinnehmen, weil der Inzidenzwert über 100 rutscht.
Galoppierende Dummheit oder böse Absicht?
Im riesigen Schatten der Pandemie, von der Öffentlichkeit quasi unbemerkt, hat die Regierungskoalition ausgerechnet mittels einer Änderung des Arbeitsschutzgesetzes das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ausgehöhlt:
„Wenn sich die Arbeitsstätte in einer Wohnung befindet, dürfen die mit der Überwachung beauftragten Personen die Maßnahmen nach den Sätzen 1 und 2 ohne Einverständnis der Bewohner oder Nutzungsberechtigten nur treffen, soweit sie zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich sind. Die auskunftspflichtige Person hat die Maßnahmen nach den Sätzen 1, 2, 5 und 6 zu dulden. (…) Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 des Grundgesetzes) wird insoweit eingeschränkt.“
Die Behörden bekommen hier das grundsätzliche Recht, sich im Namen des Arbeitsschutzes Zugang zur Wohnung eines Bürgers zu verschaffen, um dort herauszufinden, ob ein Home-Office-Arbeitsplatz eine Gefahr für die Gesundheit darstellt. Welche dringenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit, die die Einschränkung eines der zentralen Grundrechte unseres Grundgesetzes rechtfertigen könnten, von einem Home-Office-Arbeitsplatz ausgehen sollen, bleibt völlig unklar.
Galoppierende Dummheit oder böse Absicht?
Verschwörungen sind per definitionem so lange unbewiesen, bis sie aufgedeckt und bewiesen werden. Unbewiesene Verschwörungstheorien kann man also nur glauben oder eben nicht. Sie sind in ihrer Struktur den Religionen recht ähnlich, man kann sie in der Regel auch nicht widerlegen. Das heißt natürlich nicht, dass sie stimmen. Es heißt aber auch nicht, dass sie zwangsläufig falsch sind.
Letztlich ist es eine Frage der Plausibilität.
Cui bono, „wem nützt es“, pflegten die alten Römer zu fragen, wenn sie nach den Ursachen für Entwicklungen suchten.
Für wie plausibel halten wir es, dass geheime Regierungsorganisationen uns aus Flugzeugen mit Chemikalien besprühen („Chemtrails“), um unsere Gedanken zu manipulieren? Für wie plausibel halten wir es, dass echsenartige Wesen („Reptiloiden“) sich als Menschen tarnen und einen weltweiten Geheimbund gebildet haben, um uns alle zu versklaven?
Für wie plausibel halten wir es, dass Bill Gates seine weltweiten Kontakte und seine unbestrittene PR-Macht vor allem deshalb dazu nutzt, Impfkampagnen zu fördern, weil sie ihm viel Geld einbringen?
Für wie plausibel halten wir es, dass Politiker Geschmack gefunden haben an einer abgespeckten Variante von Bürgerrechten, um ihre Lieblingsprojekte auch nach Corona möglichst ungehindert durchsetzen zu können?
Für wie plausibel halten wir es, dass mächtige und reiche Menschen gierig sein können und manipulativ und egoistisch und skrupellos?
Was trauen wir wem zu?
Im Zuge vor allem des ersten NPD-Verbotsverfahrens kam heraus, dass die Führung dieser Partei mit Agenten und Zuträgern des Verfassungsschutzes nur so gespickt war. Aus eigener Kraft wäre die NPD kaum über den Status eines NS-Memorabiliavereins hinausgekommen. Erst der Verfassungsschutz pumpte die Extremistensekte so auf, dass sie als Bedrohung für die Demokratie erscheinen konnte. Für wie plausibel halten wir es, dass jetzt etwas Ähnliches bei der AfD passiert?
Man kann es nicht wissen. Und genau das ist der Punkt.
“Alle wirklich großen Ideen sehen am Anfang blöd aus. Das Problem ist, dass auch alle wirklich blöden Ideen so aussehen.”
(Cantlin Ashrowan, zugeschrieben)
Die großen Militärorganisationen dieser Welt unterhalten riesige Abteilungen, die jedem scheinbar noch so abwegigen Gedanken nachgehen. Wenig überraschend, erweisen sich die allermeisten dieser scheinbar abwegigen Gedanken auch tatsächlich als – nun ja, eben als abwegig.
Aber nicht alle.
Menschen neigen dazu, sich das Morgen wie das Heute vorzustellen. Doch es gibt immer Unwägbarkeiten und Überraschungen und Enttäuschungen. Vorher sind wir leider nie so schlau wie hinterher. Natürlich ist es ein schmaler Grat zwischen großer Offenheit im Kopf und pathologischem Verfolgungswahn. Aber seit der Aufklärung lebt unsere Zivilisation davon, dass wir alles in Frage stellen – und dass wir grundsätzlich erst einmal alles für möglich halten.
Dass etwas möglich ist, bedeutet nicht, dass es wahr ist. Und dass man etwas für möglich hält, bedeutet nicht, dass man es für wahr hält. Denn das ist das eigentliche Wesen der Dialektik: die Konkurrenz zwischen Möglichkeiten und Wirklichkeiten.
Das ist die wichtige, die unverzichtbare Rolle von Verschwörungstheorien. Sie schärfen unser Denken:
Es könnte auch alles ganz anders sein.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Alexander Fritsch, Jahrgang 1966, studierte Volkswirtschaft und Philosophie in Frankreich und Deutschland und arbeitet seit 25 Jahren als Journalist. Außerdem berät er als Business Coach Unternehmen und Verbände, vorrangig bei den Themen Kommunikation und Strategie.
Text: Gast