„Quälgeist des Bundestages“ Artikel aus der Zürcher Weltwoche

Wolfgang Koydl ist einer, zu dem ich seit meinen frühen Jahren als Journalist aufschaute: Er war für die BBC tätig und die Washington Post, war Auslandschef bei der Wiener Tageszeitung Die Presse, berichtete für die Deutsche Presseagentur (dpa) aus Kairo und Moskau, später für die Süddeutsche aus Istanbul, Washington, London und Zürich. Jetzt hat Koydl für die traditionsreiche Zürcher Weltwoche einen Bericht über meine Wenigkeit verfasst – den ich Ihnen nicht vorenthalten will. Die Schweizer Perspektive finde ich hoch interessant – deshalb danke ich der Weltwoche und Koydl, dass sie mir das Abdruckrecht zur Verfügung gestellt haben.

Der Journalist Boris Reitschuster avanciert zur Einmann-Opposition gegen die deutsche Regierung und die meist unkritischen Corona-Medien.

Mit unangenehm kritischen Fragen verstört der deutsche Journalist Boris Reitschuster nicht nur die Regierung, sondern – ein Novum – auch die unkritischen Kollegen.

Mit Schmähungen, Nachstellungen und Bedrohungen hat er schon genügend Erfahrungen gemacht, damals, im ersten Dutzend Putin-Jahre in Moskau. Bis 2012 lebte und arbeitete er in der russischen Hauptstadt, als Russland-Korrespondent des deutschen Magazins Focus. In dieser Zeit gelang es ihm mit schneidender, zuweilen leicht fanatischer Kritik am Präsidenten im Kreml zum wohl verhasstesten ausländischen Journalisten zu werden.

Die Antwort liess nicht lange auf sich warten. Boris Reitschuster wurde von den staatlichen Medien attackiert, er wurde beschattet, bedroht und von der Polizei verprügelt. Und für den Fall, dass die Botschaften nicht angekommen sein sollten, raunte man ihm ins Ohr, er habe mit seinen Schriften selbst sein Todesurteil unterzeichnet.

Reitschuster verliess das Land, das er seit seiner Jugend innig liebte und kehrte nach Deutschland zurück. Heute lebt und arbeitet er in Berlin, betreibt einen Blog und einen Youtube-Kanal. Jetzt schreibt er über deutsche Politik, weil er „nicht immer Putin kritisieren konnte ohne zu sehen, was in Deutschland falsch läuft“, wie er sagt. Inzwischen hat er das Kunststück geschafft, zum wahrscheinlich verhasstesten Journalisten im Bundeskanzleramt zu avancieren. Attackiert, geschmäht und bedroht wird er auch jetzt. Abmahnungen, einstweilige Verfügungen, Klagen. Nur Morddrohungen gab es bislang keine.

Sein Jagdrevier ist die Bundespressekonferenz, wo Regierungssprecher, Minister und selten mal die Kanzlerin den akkreditierten Hauptstadt-Journalisten Rede und Antwort stehen. Sie ist eine typisch bundesrepublikanische Besonderheit. Gegründet 1949 nach dem Krieg, haben die Journalisten hier das Hausrecht, nicht die Regierung.

Fernsehzuschauer kennen den lichten Saal mit der satt blau getönten Rückwand. Sie kennen das Ritual, das ihnen die Sender in ausgewählten Schnipseln zeigen: Softball, wie es die harten angelsächsischen Medienkollegen nennen würden – sanfte, brave Fragen, nichtssagende, beschwichtigende Antworten. Wer die Meute des White House Press Corps kennt oder die Bluthunde im Presseraum der Downing Street, der kommt sich hier vor wie im Stuhlkreis einer Waldorfschule.

Reitschuster stört die Harmonie. Er stellt kritische Fragen, harte Fragen, zuweilen auch verquere Fragen. Er lässt nicht locker, hakt nach, bohrt tiefer. Immer ausgesucht höflich, aber eben auch penetrant. Manchmal unangenehm penetrant, ein Quälgeist an der Grenze zum Querulanten. Könnte man Seufzer sehen, so wären sie jedes Mal ins Gesicht von Regierungssprecher Steffen Seibert geschrieben, wenn Reitschuster das Wort erteilt wird.

Das alles liesse sich vielleicht ertragen, wenn man mit der peinlichen Befragung unter sich bliebe in dem blau getünchten Saal. Aber Reitschuster dokumentiert die Vorgänge in seinem Blog (zehn Millionen Abrufe im Monat) und auf seinem Videokanal (mehr als 200 000 Abonnenten). Im Gegenzug schicken ihm Leser und Zuschauer ihrerseits Fragen, die sie der Regierung schon immer stellen wollten: Roh, oft grob, immer ungefiltert. Mit Reitschuster dringt der angebliche Pöbel ein in den Vorhof der Macht – und die goutiert das ganz und gar nicht.

Zur Macht zählt sich offenkundig auch die Hauptstadt-Presse. Wie in jeder anderen Kapitale ist sie auch in Berlin eng mit Parteien und Ministerien verfilzt. Man kennt sich, man braucht sich, man tut sich nicht weh. Echte Informationen bekommt nur zugesteckt, wer sich anpasst, Wohlverhalten wird mit Interviews belohnt. Eine Hand wäscht die andere.

Unter diese Rubrik fiel vermutlich auch der Artikel, der Anfang des Jahres in der Süddeutschen Zeitung erschien. Das Münchner Blatt räumte dafür seine legendäre Seite Drei frei, auf der einst  journalistische Giganten wie Hans-Ulrich Kempski oder Herbert Riehl-Heyse über Kriege, Revolutionen oder Kanzlerrücktritte schrieben. 

Diesmal war das Thema kleiner: Der Ein-Mann-Blogger Boris Reitschuster. Es gebe Klagen über ihn, hiess es, weil er die Bundespressekonferenz als Bühne, für „Desinformation und Propaganda“ missbrauche. Nach bewährtem Muster wurde Reitschuster („Ich bin eigentlich ein alter Linker“) in die rechte Ecke gerückt – immer knapp unter der Grenze zum Justiziablen bleibend: Hinter den Autoren stand wohl der Hausjustiziar der SZ.

Zu Spekulationen, es gäbe Absprachen hinter dem Schmäh-Artikel, will sich Reitschuster nicht äussern. Er sagt nur: „Er erschien an einem Freitag, schon am Montagvormittag wurde ich zu einem Gespräch bei der Bundespressekonferenz vorgeladen. Das ging bemerkenswert schnell.“ Ein Ausschluss aus dem Gremium, wie ihn die Süddeutsche angeregt hatte, blieb bislang aus.

Stattdessen hatte diese Seite Drei einen unerwünschten Effekt: Sie machte Reitschuster und seine Publikationen schlagartig noch bekannter. Wenn er nun auf Demonstrationen recherchiert, erkennen ihn die Leute und rufen „Boris, Boris“. Das ist ihm unangenehm, widerspricht es doch dem journalistischen Grundsatz, dass ein guter Journalist „überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört“. Auch wenn man dadurch mitunter ziemlich alleine dasteht.

Mein aktuelles Video aus der Bundespressekonferenz:

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

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Bild:  Shutterstock
Text: br


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