Von Alexander Wallasch
In den letzten sechs, sieben Jahren habe ich hunderte öffentlich-rechtlicher Talkshows rezensiert, die Big-4 des per Zwangsgebühren mit Milliarden Euro finanzierten Fernsehens. Solche Sendungen zu besprechen bedeutet für den Journalisten, dass er zum einen wie ein Synchronschwimmer die Höhepunkte des Gesagten protokollieren muss. Und zum anderen, dass er im Live-Modus bereits den Versuch einer Einordnung des Gesagten vorzunehmen hat.
Irgendwann vor einigen Jahren hatte ich Frank Plasberg, den Moderator von „hart aber fair“, mal um ein Interview gebeten und meine Telefonnummer hinterlassen. Das Interview sagte er mir zwar ab, er spräche nicht über die Hintergründe so eines Formates und über Gäste, dafür sprach er – übrigens sehr zur Freude meiner Kinder – eine ganze Weile nette Dinge auf meinen Anrufbeantworter.
Ich hoffe, meine darauffolgende Einschätzung lag nicht an seinem Anruf, aber Plasberg wurde irgendwann – vielleicht zwischen 2016 oder 2017 – zu einer Art Hoffnungsträger.
Es schien, dass der Wermelskirchner Plasberg den engen Freiraum so einer öffentlich-rechtlichen Sendung bereit wäre weiträumig auszumessen. Aber leider knickte er ein. Es gab bald keinen Unterschied mehr zwischen Anne Will, Maybritt Illner, Sandra Maischberger und Frank Plasberg.
Plasberg erschrak über seinen anfänglichen Kindermut, gab Fersengeld und galoppierte seinen Mitbewerberinnen auf eine Weise voraus in Sachen Staatsfunk, dass man ihm seinen Journalistenausweis vor die Füße schmeißen wollte.
Der Gipfel bei „hart aber fair“: Der Moderator erteilte dem Oppositionsführer im Deutschen Bundestag Mitte 2018 Hausverbot:
„Wir werden Herrn Gauland nicht mehr in unsere Sendung ,hart aber fair‘ einladen“, sagte Frank Plasberg, „wer die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert, kann kein Gast bei ,hart aber fair‘ sein.“ Initial war hier die „Vogelschiss“-Äußerung von Alexander Gauland, welche er selbst später als politisch unklug bezeichnete.
Plasbergs Hausverbot war aber nicht nur unklug, sondern in hohem Maße übergriffig und geeignet, symbolisch für eine Haltung zu stehen, welche Kritiker des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aufmunitioniert, wenn diese durchgehend von „Staatsfunk“ sprechen.
Nach der Talkshow ist vor der Talkshow
Erstaunlich für mich war, dass die Leser meiner Talkshow-Rezensionen von Anfang an in großer Zahl dabei waren, aber vielfach kommentierten, dass man diesen Mist nicht mehr schauen soll. Und „Mist“ ist hier noch das harmloseste Zitat. Aber sie lasen trotzdem weiter und erklärten öfter, dass sie statt der Sendungen nur noch die Rezensionen anschauen/lesen würden.
Sie ahnen es: Journalistisch ist das eine dankbare Aufgabe. Aber diese Formate wurden auch zum echten Mühlstein. Über viele Jahre hinweg – gemessen am Aufwand für einen echten Hungerlohn und ohne Nachtzuschläge aufgeschrieben – wurde der Folgetag immer öfter zum Rekonvaleszenztag. Tatsächlich bestand Erholungsbedarf nach Plasberg und Co.
Am Folgetag nach den Sendungen begann ein regelrechtes Wettrennen der etablierten Zeitungen, die eine nach der anderen ebenfalls begannen, regelmäßig über diese Talkshows zu berichteten. Aber sie zogen doch meistens den Kürzeren, belegt beispielsweise in einem Ranking, dass die Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken für einen Text misst und veröffentlicht.
Eine meiner meistgelesenen Talkshow-Besprechungen war eine Maischberger-Sendung vom 27. Januar 2016, ausgestrahlt auf dem Höhepunkt der Zuwanderungskrise.
Zu Gast waren Frauke Petry als Chefin der AfD, der heute fast vollkommen abgetauchte Jakob Augstein (damals Spiegel Online-Kolumnist), der Randale-Sozialdemokrat Ralf Stegner, der Ex-AfDler Olaf Henkel und der Schweizer Journalist und Medienunternehmer Roger Köppel. Im Ergebnis wurde daraus ein Infernal der Scheußlichkeiten gegen Frauke Petry. Und ein Glücksfall für die AfD, der Stimmenzuwachs muss damals gigantisch gewesen sein. Und er passierte über das Mitgefühl als starke Emotion, verankerte sich demnach noch einmal tiefer im Zuschauer.
Mitgefühl? Ich zitiere mich selbst:
Die Sendung droht völlig zu entgleiten. Nicht bezogen auf die Chancengleichheit für jeden Anwesenden, das war von Anfang an nicht gegeben. Nein, es entgleitet im Sinne von Respekt, Stil und Anstand. Augstein und Stegner sind wie entfesselt. Alle toben und geifern. Es ist beschämend. Das Schlimmste: Sie merken es nicht einmal. Man muss Petry nicht mögen, vielleicht sollte man das auch nicht. Die Augsteins und Stegners mit ihrer Unanständigkeit besorgen es. Unfreiwillig. „Die AfD ist eine Partei, der ist die Menschenwürde scheißegal!“ geifert Augstein und stiert dann auch noch auf eine – man kann es nicht anders sagen – soziopathische Art und Weise Richtung Petry, dass einem Angst und Bange werden kann um die Frau. Hat sie Pfefferspray dabei? Wenigstens für ein gutes Bauchgefühl? Was steckt bei Augstein dahinter? Irgendeine Psychostrategie? Oder, oder?
Ein Fazit zur Maischberger-Sendung vor fast sechs Jahren: „Nein, es ist nicht zu viel oder zu dicke aufgetragen, was Sie hier lesen. Es ist eine echte Schande für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Es ist paradox.“
Massenzuwanderung als Dauerthema
Vor allem Moderatorin Sandra Maischberger hob hier die Rolle der Staatsmoderatorin auf ein ganz neues Level. Ja, man kann es so sagen: Diese Sendung von Ende Januar 2016 wurde zur Blaupause für die Big-4-Talkshows. Markus Lanz sollte erst später als fünftes Rad am Wagen hinzukommen.
Vergnügliches gab es aber auch: So wehrten sich die Talkshows immer wieder dagegen, das Thema Massenzuwanderung aufzugreifen. Denn sie spürten schnell, dass die geladenen Kritiker hier gegenüber den Regierungsvertretern trotz aller Bemühungen punkteten.
Erstaunlicher Effekt: Um so lauter diese Kritiker niedergebrüllt wurden, desto mehr Sympathien konnten sie auf sich vereinen. Die AfD zog 2017 als Oppositionsführer in den Deutschen Bundestag ein und die Grünen nur als kleinste Fraktion.
Die ÖR-Talkshows versuchten es jetzt mit anderen Themen, scheiterten aber regelmäßig am Zuschauer, der immer da besonders häufig zuschaltete, wo er sich scharfe Debatten zum Thema Massenzuwanderung wünschte. Der Kampf um die Quote erledigte dann den Rest.
Es gab also einen gewichtigen Grund, über diese Big-4-Veranstaltungen maximal kritisch zu berichten. Noch mehr, da auch eine Reihe von privaten Medien der Regierung anreichten und in ihren vielfach grotesk verdrehten Rezensionen am Folgetag versuchten, den Schaden zu begrenzen.
Das Staatsfernsehen muss damals oft Krisensitzung gehabt haben. Ironie der Geschichte: Sandra Maischberger geriet selbst in die Kritik, die Revolution fraß gewissermaßen ihre Kinder. Kritisiert und gefragt wurde, ob Maischberger „der AfD über Gebühr eine Bühne geboten“ hätte.
Maischberger, die ebenso wie die drei weiteren Big-4-Formate diese Sendungen privat und nur im Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen produziert, wurde sogar aus den eigenen Reihen beschossen: ARD-Moderatorin Anja Reschke wunderte sich öffentlich über den Auftritt Weidels und anderer AfD-Politiker im öffentlich-rechtlichen TV bei Maischberger.
Und Reschke wurde für ihre Illoyalität belohnt, sie sammelte Lorbeeren ein – zuletzt den deutschen Fernsehpreis. Parallel wurden die Einladungen an Regierungskritiker für die Big-4-Talkshows weniger.
Das Staatsfernsehen hat daraus gelernt. Hauptgegner wurde die in den Bundestag eingezogene AfD. Diese Partei musste laut Verständnis des Staatsfernsehens aus den Sendungen verschwinden. Und sie verschwand im selben massiven Maße, wie das Thema Zuwanderung aus den Big-4 verschwand.
Dieser plötzliche Leerlauf war auffällig. Denn noch war kein Thema in Sicht, das die Menschen mehr interessieren sollte, das sie mehr bewegen oder verstören durfte. Noch nicht.
Fridays for Future und Corona
Bis Greta Thunberg auf der Bildfläche erschien, mit ihr die Klimaapokalypse und die deutschen Vertreterinnen von Fridays for Future. Sie lieferten das gesuchte Ersatzthema, das die Big-4 als Pflaster über die immer noch anhaltende Massenzuwanderung zu kleben bereit waren.
Jedenfalls so lange, bis Anfang 2020 Corona das Zepter übernahm. Auf der Meta-Ebene wurden aber weiter die Grünen auf eine Weise öffentlich-rechtlich gepusht, dass der Bakelit-Volksempfänger daneben blass aussehen sollte.
Ende 2019 war Annalena Baerbock (Grüne) von der kleinsten im Bundestag vertretenen Partei (8,9 Prozentpunkte) der am häufigsten bei den Big-4 eingeladene Gast. Das ZDF-Politbarometer sah die Grünen zu dem Zeitpunkt bei 23 Prozent. Ein Schelm, wer da nicht eins plus eins zusammenrechnen kann.
Aber auch Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Sahra Wagenknecht (Linke) lagen dicht hinter Baerbock, Vertreter des Oppositionsführers AfD liefen allenfalls im Windschatten. Beispielsweise der Merkur befand damals: „Gemessen am Stimmenanteil im Politbarometer (14 Prozent, ein Prozentpunkt mehr als die SPD) ist die Partei damit stark unterrepräsentiert.“
Damit war es besiegelt: Dieses Missverhältnis besteht bis heute weiter. Vergleicht man allerdings Ende 2021 die Talkshow-Zusammensetzungen der Big-4, dann könnte man sich fast zurücksehnen nach dem Missverhältnis der Vorgängerjahre.
Die Big-4 hatten also ihre Gästelisten eingeschmolzen, standen dann allerdings zwangsläufig vor dem Problem, dass sie das Konzept des Streitens und der kontroversen Debatte gleich mit vernichtet hatten.
Die Selbstbeschreibung beispielsweise von Maybritt Illner klingt heute wie lupenreine Satire:
„Intelligent, scharfzüngig, rasant – der Polittalk zum aktuellen Thema der Woche. Bei Maybrit Illner und ihren Gästen wird kontrovers debattiert und leidenschaftlich um Lösungen gerungen.“
Auch der Jingle zum Sendebeginn, die dramatisch arrangierte kurze einprägsame Melodie, wirkt schräg als Auftakt zum neuen sedierten Konzept dieses Formates.
Ein Karl Lauterbach (SPD), Gesundheitsexperte seiner Partei, ist der am häufigsten eingeladene Talkgast in den über zwei Jahre hinweg nicht mehr enden wollenden Corona-Runden. Fast schon folgerichtig wird er jetzt der nächste Bundesgesundheitsminister werden.
Wie soll man also diese Sendungen noch guten Gewissens rezensieren?
Wer sich an diese Besprechungen heranwagt, der läuft ja schon Gefahr, dem Staatsfernsehen auf den Leim zu gehen. Denn macht man es journalistisch aufrichtig, wäre man ja gezwungen, dieses Missverhältnis in jeder einzelnen Rezension wie die Warnung auf den Zigarettenschachteln immer wieder neu zu erzählen.
Auf das Problem angesprochen, erklärte mir noch Anfang des Jahres ein gestandener Journalist, solche Sendungen könnten ja keine Abbildung des Parlaments sein. Eine Rechtfertigung, diesen Staatsfunk-Inszenierungen trotzdem weiter zu folgen, blieb der sonst so wachsame und erfahrene Kollege aber schuldig.
Nicht vergessen: Die politische Kontroverse ist planvoll aus allen Big-4-Talkshows eliminiert worden.
Selbstzerstörungsmodus eingeschaltet und runtergezählt
Ein Format hat sich selbst abgeschafft. Die Big-4 geistern nur noch als Untote weiter durchs Programm. Der Zuschauer bekommt jetzt Verlautbarungsfernsehen präsentiert. Und wir kennen die Blaupausen dieser Entwicklung: So konnte beispielsweise Anne Will einfach nicht widerstehen, sich darauf einzulassen, die Regierungserklärungen der Kanzlerin in mehreren Einzelgesprächen zu präsentieren – inhaltlicher Widerspruch war ausgeschlossen, der Journalistenausweis schmolz dramatisch zusammen.
Abschließend noch ein aktueller Blick in die öffentlich-rechtliche Aufbahrungshalle zu Anne Will: Zu Gast am Vorabend des Nikolaustages waren Markus Söder (CSU), eine Mitarbeiterin der Süddeutschen Zeitung (im Rechercheverbund mit den Öffentlich-Rechtlichen), Konstantin Kuhle (FDP), eine Fachärztin der Anästhesie und – natürlich – der unvermeidbare Karl Lauterbach (SPD).
Inhaltlich ist da nichts mehr berichtenswert. Big-4-Talkshows veranstaltet und organisiert wie DDR-Parteitage: Störungen unerwünscht. Die Kontroverse stört.
Aber die Kontroverse bleibt dennoch unverzichtbares Wesensmerkmal einer Demokratie. Hier wurde das Kind tatsächlich mit dem Bade ausgeschüttet, die Verbannung der Debatten aus den öffentlich-rechtlichen Talkshows hat einen Friedhof der Kuscheltiere hinterlassen.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Bild: Screenshot Hart aber Fair
Text: wal
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