Von Ekaterina Quehl
„Achtjähriger in Berlin angefahren“ ist ein solches Thema, bei dem man sich normalerweise in die Nachricht kurz reinliest, den Kopf schüttelt, aber nicht aufgreift, um einen eigenen Beitrag darüber zu schreiben. Verkehrsunfälle sind traurig und manchmal auch schrecklich, besonders, wenn sie mit Kindern geschehen. Aber sie spiegeln nicht unbedingt gesellschaftlich-politische Defizite wider, über die man nicht schweigen würde.
Doch in diesem Bericht geht es nicht nur um einen 8-jährigen Jungen, der angefahren wurde und der Fahrer wegfuhr. In diesem Bericht geht es vielmehr um eine Diagnose für eine Gesellschaft, deren innere Abstumpfung kaum noch steigerbar ist.
Laut dem Tagesspiegel-Bericht wurde in Berlin Spandau ein 8-jähriger Junge kurz vor 9 Uhr morgens von einem Auto angefahren, als er bei Grün eine Straße überqueren wollte. Offenbar war der Junge auf dem Weg in einen Hort. Der Fahrer hielt im Bereich einer Haltestelle an, schaute aus dem Fenster und lachte. Danach verließ er den Unfallort.
Der Junge erlitt eine Verletzung der Nase und klagte über Schmerzen in der linken Körperhälfte. Unter Schock ging er in seinen Hort und erzählte einer Erzieherin von dem Vorfall. Diese habe weder medizinische Hilfe organisiert noch die Betreuerin informiert.
Trotz andauernder Schmerzen blieb der Junge im Hort, bis er gegen Mittag selbst seine Betreuerin anrief. Sie holte ihn sofort ab und fuhr mit ihm zur Polizeiwache. Dort erstattete sie eine Anzeige. Die Polizei alarmierte sofort die Feuerwehr. Der Junge kam ins Krankenhaus, wo ihm endlich medizinische Hilfe geleistet wurde.
Wenn man den Gesamtbericht liest, weiß man nicht, welcher Teil absurder und zynischer ist:
Der Teil, in dem der Fahrer bei Grün für Fußgänger einfach weiter fährt?
Oder der, bei dem der Fahrer den Jungen anfährt?
Oder vielleicht der Teil, in dem der Fahrer im Bereich der Haltestelle anhält, aus dem Fenster herausschaut, lacht und dann wegfährt?
Oder der, in dem offenbar kein einziger Mensch an der Haltestelle – und dass sie morgens an einem Werktag leer ist, ist unwahrscheinlich – dem Jungen hilft und weder Hilfe ruft noch versucht, den Fahrer aufzuhalten?
Oder möglicherweise der, in dem der Junge allein zu seinem Hort weitergeht und kein einziger Mensch ihn wenigstens begleitet, wenn schon keiner Hilfe ruft?
Oder der Teil, in dem die Erzieherin, nach dem der Junge unter Schock ihr von dem Unfall und seinen Verletzungen erzählt, gar nichts unternimmt? Weder ruft sie medizinische Hilfe noch die Betreuung des Jungen.
Oder der, in dem der Junge die Situation offenbar in seine Hände nimmt und selbst seiner Betreuerin anruft? Und erst dann abgeholt wird und Hilfe bekommt?
Oder endlich der Teil, in dem der Tagesspiegel von dem Unfall so berichtet, als wäre es ein Wetterbericht?
Wählen Sie selbst.
Jeder einzelne Teil spricht für sich und repräsentiert das Absurde und Zynische einer Gesellschaft, für die solche Geschehnisse anscheinend nichts Besonderes mehr sind. Eine, in der Linke mit Islamisten kuschelnd „Free Palestine“ skandieren, aber an einem verletzten Jungen vorbeischaut. Eine, in der Beschwerde-Verfahren für Kita-Kinder eingeführt werden, Erzieher es aber offenbar nicht interessiert, wenn ein Kind unter Schock im Hort von eigenen Verletzungen erzählt. Eine, die sich mehr darum kümmert, dass ein Kind zwar eine Möglichkeit hat, sein Geschlecht ab 0 frei wählen zu dürfen, aber ein 8-Jähriger sich selbst Hilfe leisten muss, um nach einem Verkehrsunfall in ein Krankenhaus zu kommen.
Ein solcher Vorfall ist ein Symptom kollektiver Gleichgültigkeit und Zynismus, die längst zur Grundhaltung geworden sind. Es ist nicht der eine große Skandal, der empört. Es ist die Summe kleiner, unterlassener Selbstverständlichkeiten, die zeigt, wie weit sich unsere Gesellschaft bereits von menschlichem Verhalten entfernt hat.
Lieber Junge, sei mutig und tapfer. Du hast mit acht Jahren gelernt, wie man in der Wildnis allein überlebt. Du hast verstanden, dass man hierzulande wahrscheinlich selbst dann allein ist, wenn man verletzt und sichtbar in Not ist. Du hast alles richtig gemacht, um Dich selbst zu retten.
Und die Gesellschaft? Für sie ist so ein Tag einfach nur ein weiterer Tag.
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Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Sie arbeitet für reitschuster.de.
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