Von Alexander Wallasch
Am Morgen der Verbannung von ungeimpften Bundestagsabgeordneten auf die Tribüne hält Bild-TV-Chef Claus Strunz auf seinem eigenen Kanal eine bemerkenswerte Wutrede. Da fragt man sich, wohin das geführt hätte, wenn Strunz noch gemeinsam mit dem ehemaligen Bild-Chef Julian Reichelt die Lage in Deutschland analysieren und kommentieren würde.
Hier der Solo-Auftritt von Claus Strunz im Originalton:
Nein, es ist natürlich falsch, falsch, falsch. Ich sage es bewusst drei Mal, damit es auch jeder hört. Diese Idee, Ungeimpfte aus dem Saal zu verbannen, auf der Tribüne zur Schau zu stellen – guck mal da oben sitzen die Ungeimpften! – das gehört nicht in dieses Parlament. Und ich empfinde diesen Zweiklassen-Bundestag seit heute als Schande.
Es gab ja auch vorher schon eine Regel unter Wolfgang Schäuble, dem Parlamentspräsidenten, das war 3G. 3G kennen viele. Wir alle. Auch wir hier vom Arbeitsplatz. Und 3G ist die richtige Lösung, auch für das Parlament. Denn auch das Parlament ist ein Arbeitsplatz. Also das bedeutet, man ist geimpft, genesen oder legt einen Test vor. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich fühle mich ehrlich gesagt immer noch am sichersten in einer Umgebung von getesteten Menschen. Wir alle hier im Studio sind getestet, sonst wären wir nicht im Studio.
Ob ihr geimpft seid, geht mich eigentlich gar nichts an. Und so muss auch das Parlament funktionieren. Und nicht mit einer Art Diskriminierungskampagne Ungeimpften gegenüber.
Ich überlege mir auch, was ist die Symbolik? Also wer muss denn eigentlich immer irgendwo anders hin? Ins Eck muss der, der was angestellt hat – war, glaube ich, nur noch früher so. Auf die Strafbank muss man beim Eishockey, wenn man Foul spielt.
Also es gibt überhaupt keine positive Legitimation. Und was mich im Prinzip am meisten aufregt, ist … eigentlich finde ich es sogar ganz schön, weil es offenlegt die Unglaubwürdigkeit dieser Entscheidung. Als Hauptargument nennen die Parlamentarier nämlich, man wolle die Ungeimpften schützen. Deshalb tue man sie raus aus diesem gefährlichen Saal, wo ja geimpfte und geboosterte Menschen sitzen, um sich selber vor einer Ansteckung zu schützen.
Das ist in einem Raum – wir haben ihn ja vorhin angeguckt, den Bundestag, den Plenarsaal – natürlich an Absurdität nicht zu übertreffen. Denn dieser Plenarsaal ist quasi Open Air. Mit, ich weiß nicht, hundert Meter hohen Decken und einem riesigen Platzangebot.
Das bedeutet: Die mitgelieferte Deutung dieser Entscheidung lautet, man muss Geimpfte vor den Ungeimpften schützen. Und dann sind wir sehr schnell bei: Hier unten sind die Guten und da oben sind die Bösen. Hier unten sind die Vernünftigen, da oben sind die Unvernünftigen. Da unten sind die Verantwortungsvollen, da oben sind die nicht Verantwortungsvollen. Da unten sind die Gesunden, da oben sind die Aussätzigen.
Und das ist etwas, was nicht in dieses Parlament gehört.
Und ich vermisse den Aufschrei zum Beispiel der Liberalen. Warum wird denn dieses große Thema der Freiheit jetzt wieder der AfD überlassen? Die das heute wahrscheinlich zu einem großen Schauspiel nutzen wird. Aus meiner Sicht zu Recht. Mit gutem Recht. Weil es eine absurde Entscheidung ist.
Wo ist denn der große Liberalenführer Christian Lindner jetzt und sagt, Leute, jetzt ist eine Grenze überschritten! Das geht nicht! In meinem, in unserem, in unser aller Parlament: Das ist nicht zulässig! Hier ist die Grenze überschritten! (…)
Für Zyniker wäre es das einzig Positive, dass man jetzt im Parlament sehen kann, wie dieses ganze Land offensichtlich geordnet werden soll: In die Guten, die geimpft sind. Und die Bösen, die Schlimmen, andere Gefährder, die ungeimpft sind.
Das ertrage ich nur schwer. Und ich hoffe, dass darüber diskutiert wird. Ich hoffe sogar, dass es Klagen gibt. Und da bin ich mal gespannt, ob die Justiz zu einem anderen Urteil kommt. Das, was dann entschieden wird, würde ich als Staatsbürger sozusagen zur Kenntnis nehmen. Aber wenn da rauskommt, das ist okay, kriege ich noch mehr Zweifel.
(…) Im Bundestag kann man sich jetzt so verhalten, dass man Menschen outet, indem man, wenn man geimpft ist, unten sitzenbleibt und nur die Ungeimpften oben …
Man muss also quasi, um eine Diskriminierung zu vermeiden, irgendwie Sachen machen ….
Ich meine, wo sind wir denn jetzt angekommen in dieser Pandemie? Ich glaube inzwischen, dass die größte Folge der Pandemie nicht etwa gesundheitliche und medizinische Themen sind, sondern die größte Folge der Pandemie ist, dass wir uns bewusst machen müssen, was es zu verteidigen gilt in unserer Demokratie. Nämlich die Freiheit. Die Freiheit im Parlament.
Ich meine, noch mal: Da kommen gesunde Parlamentarier. Die haben nicht Corona. Sie zeigen einen Test vor, dass sie sozusagen negativ sind. Und dürfen nicht in den Plenarsaal? Was kommt dann da als nächstes? Der Alkoholtest? Oder die Wesensprüfung oder die Gewissensprüfung? Also irgendwo ist hier jetzt sozusagen wirklich ein Punkt erreicht – eine Art Wendepunkt.
Und an diesem Beispiel – und das meine ich! – das ist ja vielleicht für Zyniker noch das eigentlich Gute daran, dass man im Parlament jetzt sehen kann, was in Köpfen von Politikern vorgeht, die diese Ausgrenzungspolitik verfolgen.
Und hoffentlich wird die Debatte – die wir ja heute auch zeigen werden – (…) steil und mit aller Kraft geführt. Und hoffentlich wird sie auch mit einem liberalen Momentum geführt und nicht nur von den Seiten befeuert.
(…) Ich habe eine riesen Hochachtung vor dem Parlament. Für mich ist das Parlament sozusagen der wichtigste Platz der Demokratie. Und wenn man diesen außergewöhnlichen Platz zu vergleichen versucht mit etwas anderem, dann ist es der Arbeitsplatz und nicht die Kneipe. Und deshalb muss gelten, was auch an den meisten Arbeitsplätzen gilt, nämlich 3G. Es hat auch gegolten, bis diese neue Parlamentspräsidentin von der SPD ans Ruder kam.
Jetzt gibt es plötzlich die verschärften Regelungen. Und da wird mir doch angst und bange, wenn ich darüber nachdenke, was dieses Symbol für die Corona-Politik dieser SPD-geführten Regierung in der Zukunft bedeuten kann. Nämlich, dass wir nicht zueinander finden, sondern weiter auseinanderdriften.
Es wird ja schon einmal spannend sein, wie viele Ungeimpfte gibt es da überhaupt? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr rege ich mich auch auf:
Denken wir noch einen Aspekt durch: Jemand kann sich nicht impfen lassen, wegen einer gesundheitlichen Disposition. Der wird jetzt ja auch da hoch verbannt. Oder er muss offenlegen, wahrscheinlich.
Hat man dann so eine Armbinde an, wo drauf steht: Ich habe hohen Blutdruck und deshalb lasst mich bitte hier rein? Das sind doch Zustände, wenn wir über die vor zwei Jahren geredet hätten – ich hätte gesagt, so wird es kommen – dann hättet ihr zu mir gesagt: Pass mal auf, leg dich wieder hin, ändere deine Medikamente, du bist verrückt geworden.
Wir sind in einer verrückten Zeit im besten Sinne des Wortes ‚verrückt‘, aus dem Bild gewandert, verrutscht. Und das muss sich sehr, sehr, sehr schnell ändern. Weil sonst nämlich Folgeschäden (kommen). „Long Covid“ ist dann ein Folgeschaden für die Demokratie, nicht für den menschlichen Körper. Davor habe ich wirklich Angst.
(Auf die Frage an Strunz, wie man es hinbekommt, jetzt nicht für einen Anhänger der AfD gehalten zu werden:)
Achtung, jetzt wird es philosophisch: Da halte ich es mit Habermas – großer Philosoph, großer Denker –, der hat mal gesagt, das Wichtigste ist in einer Debatte: Der zwanglose Zwang des besseren Arguments. Also das bedeutet übersetzt: Wenn ein Argument in sich für die Mehrheit der Menschen absolut überzeugend ist, dann hat es auch die Kraft, die Mehrheit zu überzeugen.
Alles, was gekünstelt, PR-ig, mein-Hintern-auf-meinem-Parlamentsstuhl, mein-Amt-retten, wo man spürt, das ist ein Argument, das hat nicht den zwanglosen Zwang, sondern das ist gekünstelt für einen Zweck, dem glauben die Menschen nicht.
Also setzen wir auf den zwanglosen Zwang des stärkeren Arguments. Wenn jemand sagt, wenn du ins Wasser springst, wirst du nass, dann kann man da dagegen reden, wie man will, man wird verlieren. Weil, man wird halt nass.
Und das finde ich, vermisse ich in dieser Debatte, dass die Argumente nicht so überzeugend vorgetragen werden, wie sie vorgetragen gehören, damit eine Mehrheit sie hört, aufnimmt, durchdenkt und ihnen dann aus freien Stücken folgt.
Das ist eigentlich eine Demokratie, in der ich leben müsste. Inzwischen leben wir in einer Demokratie, in der Ungeimpfte verbannt und diskriminiert werden. Unangenehm.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Bild: Screenshot Video
Text: wal
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