Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger
Er hatte einen eher ungestümen Vorgesetzten, der ihm einmal entgegenhielt: „Sie sind der große Logiker; ich bin groß darin, wenn es darum geht, nach vorn zu stürmen, wo Engel furchtsam weichen.“ Nein, es ist nicht die Rede von Karl Lauterbach und seinem die Richtlinienkompetenz vergessenden Kanzler – die haben weder etwas mit Logik noch mit voranstürmendem Mut zu tun –, sondern vom Wissenschaftsoffizier des Raumschiffs USS Enterprise, Mr. Spock, und seinem Captain James T. Kirk. Auch wenn heute die Tricktechnik der Serie „Star Trek“ bzw. „Raumschiff Enterprise“ veraltet erscheint, so kann man doch aus ihren Geschichten und gerade aus den Äußerungen Spocks immer noch Nutzen ziehen. „Die negativen Kräfte“, so meinte er beispielsweise in einer Folge der Serie, „können nur dann weiter wirken, wenn man sie nicht erkennt.“
Eine Erkenntnis, die man nicht nur in den unendlichen Weiten des Weltraums beherzigen sollte, da in unseren Zeiten eben diese negativen Kräfte alles daran setzen, als positiv zu erscheinen und sich somit unkenntlich zu machen. Vor wenigen Tagen hat Winfried Kretschmann, der freundlich-väterliche gelernte Maoist und ungelernte Ministerpräsident Baden-Württembergs, wieder einmal einen entsprechenden Versuch unternommen. Mit eindringlichen Worten, berichtet uns die Süddeutsche Zeitung, habe er in Pittsburgh vor einem Niedergang des Vertrauens in die Demokratie gewarnt: „Unsere liberalen Demokratien sind erneut in Not“, teilte er mit, und wer wollte ihm da widersprechen? In Anbetracht eines immer übergriffiger werdenden Staates, dessen Vertreter ihn zunehmend als Beute ihrer jeweiligen Partei, ihrer Anhängerschaft und vor allem ihrer Ideologie sehen, ist es um den Zustand unserer Demokratie, zumal unserer liberalen Demokratie schlecht bestellt: Freiheit und Einmischung des Wahlvolks stören nur auf dem Weg in die hygienische Perfektion und die absolute Klimaneutralität.
‘Nur billige Parolen‘
Doch sollte man sich nicht zu früh über einen Hauch von Selbsterkenntnis bei einem Politiker freuen. Selbstverständlich wollte er nicht mit dem Finger auf sich selbst zeigen, sondern hatte ganz andere im Visier, denn er warnte vor „Populisten und Demokratieverächtern, die nur billige Parolen und leere Versprechungen haben, die Ängste schüren und vor Lügen nicht zurückschrecken und die Gesellschaft spalten.“ Wen könnte er wohl damit gemeint haben? Populismus kommt gelegentlich vor, etwa wenn eine Regierung nach einer Flutkatastrophe im fernen Fukushima entscheidet, um Wahlen zu gewinnen, müsse man nun alle deutschen Kernkraftwerke abschalten, damit sie nicht von einem Tsunami getroffen werden können. Auch mit Demokratieverächtern hat man es hierzulande manchmal zu tun, etwa wenn eine amtierende Bundeskanzlerin die demokratisch durchgeführte Wahl eines thüringischen Ministerpräsidenten als unverzeihlich bezeichnet, den Wahltag als schlechten Tag für die Demokratie brandmarkt und fordert, die Wahl müsse rückgängig gemacht werden. Sollte es Kretschmann mit seinen mahnenden Worten etwa auf die Altkanzlerin abgesehen haben? Man will es nicht so recht glauben.
Und die billigen Parolen und leeren Versprechungen? Ja, die findet man, ohne lange zu suchen. Eine billigere Parole als „Wir schaffen das“ hat es wohl selten gegeben, sofern man die Scholzsche Parole vom Doppel-Wumms einmal beiseite lässt, und was Kretschmanns Freunde im Hinblick auf die sogenannte Energiewende zum Besten geben, ist mit dem Begriff „leere Versprechungen“ ohne Frage noch zu freundlich charakterisiert. Wie sonst sollte man beispielsweise die Aussage Claudia Kemferts, der angeblichen Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, bezeichnen, man habe in Deutschland Stromspeicher „noch und nöcher“? Mit leeren Versprechungen zur Integration von Migranten, zur Stabilität des Euro, zur Sicherheit der Energieversorgung, zur Wirksamkeit von Covid-Impfungen, Masken und Lockdowns – mit all diesem leeren Gerede hat die politische Kaste seit jeher versucht, ihre Bürger ruhig zu stellen, und erstaunlicherweise ist ihr das auch weitgehend gelungen. Sollte Kretschmann das etwa kritisieren?
‘Vor Lügen nicht zurückschrecken‘
Aber nein, natürlich nicht. Auch wenn er die erwähnt, „die Ängste schüren und vor Lügen nicht zurückschrecken“, denkt er wohl kaum an die panikschürenden Fehlinformationen – man könnte sie auch Lügen nennen – zu der sonderbaren Pandemie, die ausgerechnet in Deutschland nicht enden will, und an ihre Urheber. Wie er zweifellos auch kaum die unsägliche „I want you to panic“-Rhetorik einer schwedischen Schulschwänzerin im Sinn gehabt haben dürfte. Panik schüren immer nur die anderen, Lügen verbreiten immer nur die anderen, ein grüner Ministerpräsident und alle, die er schätzt, sind davor gefeit.
Und es sind auch immer nur die anderen, die „die Gesellschaft spalten“. Oder doch nicht? Erinnern wir uns an den hochgelobten Altbundespräsidenten Joachim Gauck, der das Land pauschal aufteilte in ein helles Deutschland und ein Dunkeldeutschland. Und bleiben wir noch einen Moment bei dieser Lichtgestalt, von der sich die Gegner einer eher unzureichend überprüften Covid-Impfung als „Bekloppte“ beschimpfen lassen mussten. Und reden wir erst gar nicht von Tobias Hans, dem ehemaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes, der im Dezember 2021 mit seiner Äußerung „Zuerst einmal müssen wir eine klare Botschaft an die Ungeimpften senden: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben“ ganz sicher zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beigetragen hat. Die Spalter der Gesellschaft gibt es, und man findet sie in genau der politischen Klasse, der auch Kretschmann voller Stolz angehört.
‘Gemeinsame Werte‘
Dass man mit dieser Klasse allein nicht weit kommt, scheint auch dem Hauptdarsteller der einigermaßen dümmlichen Kampagne „Cleverländ“ aufgefallen zu sein. „Aber auch die beste demokratische Regierung“, so erfahren wir in der Süddeutschen Zeitung, „brauche das Volk, das die gemeinsamen Werte teile und die Spielregeln verteidige.“ Das stimmt. Die deutschen Bundes- und Landesregierungen gehören zwar sicher nicht zu den besten demokratischen Regierungen, auch wenn Kretschmann das suggerieren möchte, aber das Volk brauchen sie bedauerlicherweise immer noch – wer sonst sollte wohl die Gehälter erwirtschaften, die unsere Politiker zwar nicht verdienen, aber leider nach wie vor erhalten? Doch nicht jedes Volk ist ihnen recht, da sind sie eigen, sie hätten gern ein Volk, das die gemeinsamen Werte teilt und die Spielregeln verteidigt. Welche Werte und Regeln, mag sich manch einer fragen, sind hier wohl gemeint? Die Regel, alles durchzugendern und damit die deutsche Sprache genauso zu ruinieren wie die deutsche Wirtschaft? Der absolute Vorrang des sogenannten Klimaschutzes, der allein schon dafür sorgt, dass man die deutsche Wirtschaft genauso ruiniert wie die deutsche Sprache? Das Grundprinzip, alle Vertreter abweichender Meinungen als unerhört rechts und außerhalb der Gesellschaft stehend zu diskreditieren?
Es scheint ein Volk angepasster Mitläufer zu sein, das sich der altersweise Ministerpräsident vorstellt. Und wenn die Menschen das nicht wollen? Dann muss er sich vielleicht auf Bertolt Brecht besinnen, der auf die Ereignisse des 17. Juni 1953 mit dem Gedicht „Die Lösung“ reagierte:
„Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?“
Das Volk auflösen und ein neues wählen, das den Angehörigen der politischen Klasse besser ins Konzept passt – oder vielleicht doch die Menschen so lange durch immerwährende Propaganda umerziehen, bis sie sich der Tendenz zum infantilen öko-hygienischen Totalitarismus angepasst haben? Einen Beitrag zur Umerziehung wollte Kretschmann vermutlich mit seiner Pittsburgher Rede leisten. Ob es ihm und seinen Mitstreitern gelingt, hängt davon ab, ob wir es hinnehmen.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
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