In Corona-Zeiten häufen sich bei mir die Momente, in denen ich an meinem eigenen Verstand zweifle. So gerade beim Lesen dieser Nachricht im Nordkurier (einer Zeitung, die ich überaus schätze): „Die vierte Corona-Welle ist eine Welle der Ungeimpften“. Da heißt es: „Es war nur ein kleiner Halbsatz, den Manuela Schwesig … fallen ließ. Demnächst werde man sowohl die Inzidenzwerte von Geimpften als auch von Nicht-Geimpften täglich veröffentlichen… Nun, aus der Anmerkung ist jetzt Realität geworden – inklusive des durchaus vorhandenen politischen Zündstoffs. Denn allein der Blick auf die aktuellen Zahlen verdeutlicht eine enorme Schere, die sich täglich zwischen den Polen Geimpfte und Nicht-Geimpfte immer mehr spreizt. Laut Landesamt für Gesundheit und Soziales in Mecklenburg-Vorpommern betrug die Inzidenz (Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen) bei den Nicht-Geimpften 72,5 (plus 2,1 gegenüber dem Vortag), bei den Geimpften 7,1 (0).“
So weit, so gut. Oder genauer gesagt, so schlecht. Doch wie der SPD-Fraktionschef im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Thomas Krüger, die Zahlen kommentiert, hat mich vom Stuhl gehauen: „Die vierte Welle ist zuallererst eine Welle der Ungeimpften. Momentan sind zehnmal so viele ungeimpfte Menschen mit dem Virus infiziert wie geimpfte“. Der nun verbesserte Überblick der Lage habe Vorteile, so der Sozialdemokrat laut Nordkurier: Er erlaube Rückschlüsse auf mögliche Impfdurchbrüche des Virus, also Ansteckungen trotz doppelter Schutzimpfung. Umgekehrt könne der Blick auf die Inzidenz unter Ungeimpften ein Frühwarnsystem für die Situation in den Krankenhäusern sein, argumentiert Krüger für die getrennten Inzidenzzahlen.
Moment mal! Bin ich durchgeknallt oder stimmt hier etwas nicht – das war meine erste Reaktion. Selbst ein Grundschulkind sollte verstehen, dass Positiv-Zahlen wenig aussagekräftig sind, wenn ich Ungeimpfte ständig zum Testen zwinge und Geimpfte kaum getestet werden. Natürlich werde ich bei denen, die ich ständig teste, mehr positive Tests erhalten.
Umso größer meine Verwunderung, dass auch die CDU den Sozialdemokraten folgt. Sebastian Ehlers von der Union sagte laut Nordkurier: „Es geht nicht darum, jemanden zu stigmatisieren, sondern ganz nüchtern darauf hinzuweisen, dass auch Geimpfte erkranken können, dass aber Geimpfte viel seltener erkranken und wenn sie erkranken, dann viel weniger stark.“ Wie der Christdemokrat von den Inzidenz-Zahlen zu diesem Schluss kommt, erschließt sich mir auch nach viel Nachdenken nicht.
Man mag es drehen und wenden, wie man will – laut Nordkurier sagte nur die AfD das, was auch mir sofort in den Sinn kam: „Ich halte es nicht für zielführend, dass zwischen der 7-Tage-Inzidenz von Geimpften und Ungeimpften unterschieden wird. Mal ganz abgesehen von einer möglichen Stigmatisierung von Ungeimpften“, meinte AfD-Fraktionschef Nikolaus Kramer. Weiter zitiert ihn der Nordkurier wie folgt: „Zumal die Interpretation der vorliegenden Zahlen schwierig sei. Wer vollständig geimpft sei, müsse sich in der Regel nicht testen lassen. Milde oder symptomfreie Infektionen würden so nach Einschätzung Kramers nicht festgestellt, was automatisch zu niedrigeren Inzidenzwerten von Geimpften führen würde.“
Weil ich weiß, dass der Dauerstress nicht ohne Folgen bleibt und man sich ständig hinterfragen muss, wandte ich mich mit der Thematik an einen befreundeten Mediziner – Chefarzt einer deutschen Klinik. Ich schickte ihm den Link zu dem Artikel im Nordkurier und folgende Frage: „Ich zweifle deswegen an meinem Verstand. Wenn ich Geimpfte kaum teste, Ungeimpfte aber ständig, ist es doch geradezu zwingend, dass die Inzidenz der Ungeimpften viel höher ausfällt. Stehe ich auf der Leitung oder ist das Bauernfängerei?“
Seine Antwort tröstete mich dahingehend, dass mein Verstand noch funktioniert – aber betrübte mich sehr, was die Verdummung der Öffentlichkeit angeht:
Nun, zunächst ist mir die Datenlage unklar, da man bei Testung nicht angeben muss, ob man geimpft ist oder nicht. Ich war jetzt schon länger nicht mehr dort, aber diese Information wird bislang nach meiner Kenntnis nicht erhoben. Wie kann man dann da differenzieren?
Bei den Intensivpatienten ist dies einfacher aufgrund der Anamnese.
Die Ungeimpften werden viel häufiger getestet. In den Schulen etc. Mit Schulbeginn werden alle Kinder momentan sehr umfangreich getestet. Die sind auch häufiger positiv, aber symptomlos. Dadurch steigt bei den Ungeimpften die Inzidenz.
Andere Ungeimpfte lassen sich testen, um ins Restaurant zu können. Da Viele asymptomatisch sind, steigt die Inzidenz. Die Geimpften werden nicht getestet, da der Impfausweis ausreicht, um essen gehen zu können. Würden die auch alle getestet, überwiegend ebenfalls asymptomatisch, stiege die Inzidenz an.
Daher, so glaube ich, die Diskrepanz. Ungeimpfte werden häufiger getestet. MVP vergleicht also Äpfel mit Birnen.
Ein Problem in dieser Thematik sind die „asymptomatisch Erkrankten“. Ein Narrativ der Politik. Entweder krank oder asymptomatisch positiv getestet. Dies wäre der korrekte Ausdruck. Und die Asymptomatischen, bleiben sie es auch, übertragen das Virus wohl nicht. Es bleibt die Frage, wann wird der Asymptomatische zum Symptomträger und potentiellen Überträger? Dies meinte, glaube ich, die Kanzlerin in ihrem Statement vor dem Bundestag vor einigen Monaten.“
Im weiteren Briefwechsel schrieb mir der Chefarzt:
Aber, in diesem Zusammenhang aus meiner Sicht extrem wichtig: auf welcher Daten-Grundlage beruhen die Aussagen, dass die auf Intensivstation behandelten Menschen fast ausschließlich ungeimpft sind? Bei der DIVI wird es nicht ausgewiesen. In welchem Register werden diese Zahlen erhoben? Erfolgt eine Doppelmeldung der Kliniken an das Robert-Koch-Institut? Dies ist eine gute Frage für die nächste Bundespressekonferenz.
Und für die Nachfrage: Werden die Patienten wegen oder mit COVID-19 behandelt? Auch da wird nach 18 Monaten nicht differenziert. Oder gibt es weitere Meldebögen, die von den Kliniken irgendwo hingeschickt werden, die nicht öffentlich kommuniziert werden?
Eine Frage zu Mecklenburg-Vorpommern wird auf der Bundespressekonferenz nicht beantwortet werden, da es Ländersache ist. Die anderen beiden Fragen müsste die Regierung beantworten können.
Nochmal: Woher kommt die Differenzierung zwischen geimpft und ungeimpft? Ich gehe gerne am Montag mal in ein Testzentrum und probiere es aus. Das lässt aber nicht an ihrem Verstand zweifeln, sondern an der Allgemeinbildung und am mathematischem Grundverständnis von Politikern und vielen Medien…
Beruhigend und beunruhigend zugleich, die Auskunft des Arztes.
Die beiden von ihm vorgeschlagenen Fragen habe ich heute an die Bundesregierung auf der Bundespressekonferenz gestellt. Lesen Sie später hier die Antworten des Gesundheitsministeriums.
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