Von Daniel Weinmann
Anspruch und Wirklichkeit scheinen beim Weltwirtschaftsforum weit auseinanderzuklaffen. Die Lobbyorganisation, die sich nichts Geringeres auf die Fahnen geschrieben hat, als „den Zustand der Welt zu verbessern“, sieht sich massiven Vorwürfen gegenüber. Es geht um sexuelle Belästigung, rassistische Benachteiligung und Diskriminierung. Besonders heikel: Die Anschuldigungen stammen nicht etwa von linken Gruppierungen, sondern ausgerechnet vom „Wall Street Journal“, der Lieblingslektüre der Konzernbosse, die alljährlich das Forum in Davos besuchen.
Das 1889 erstmals als Newsletter erschienene Traditionsblatt sprach mit rund 80 Mitarbeitern, die teilweise schon in den 1980er Jahren für das WEF gearbeitet haben und beruft sich auf deren E-Mails sowie interne Beschwerden. Demnach berichten mehrere Frauen über sexuelle Belästigungen durch leitende Angestellte, von denen einige noch beim WEF beschäftigt seien.
Zwei sagten aus, sie seien unter anderem in Davos sexuell bedrängt worden. Dort sei von weiblichen Mitarbeitern erwartet worden, dass sie den Delegierten auf Abruf zur Verfügung stünden. Für sexuelle Kontakte zwischen VIPs und Forumsmitarbeitern habe es eigens den Terminus „white on blue action“ gegeben.
Schwarze Mitarbeiter wiederum beschwerten sich, als Neger bezeichnet und bei Beförderungen übergangen worden zu sein. In einer WhatsApp-Gruppe mit dem vielsagenden Namen „WEFugees“, haben sich Dutzende ehemalige Mitarbeiter zusammengefunden, um sich über ihre traumatischen Erfahrungen auszutauschen. Sie sprechen von einer „Kultur der Angst und des Schweigens“.
»Schreckliche Sache, die man als Frau durchmachen muss«
Dies passt alles andere als zu einer Organisation, die im internationalen Rampenlicht für Gerechtigkeit und Gleichheit eintritt und mit ihrem „Global Gender Gap Index“ jährlich den aktuellen Stand und die Entwicklung der Geschlechterparität misst. Ein besonderes „Gschmäckle“ erhält die Enthüllungsstory vor dem Hintergrund der erst Ende Mai publik gewordenen Ankündigung von WEF-Gründer Klaus Schwab, als Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums zurückzutreten. Der 86-Jährige führt das Forum seit 1971.
Geht es nach dem „Wall Street Journal“, hat sich das WEF unter seiner Ägide zum „toxischen Arbeitsplatz“ entwickelt. Die Organisation habe eine „frauen- und schwarzenfeindliche Atmosphäre“ toleriert. „Mitarbeiter sagen, dass Frauen seit den Anfängen des Forums vor Schwab gewarnt wurden“, so der Bericht, „wenn Sie mit ihm allein sind, könnte er unangenehme Kommentare zu Ihrem Aussehen abgeben“.
Laut einer Angestellten, die in den 2000er Jahren in Genf arbeitete, hat Schwab zwar nie die Grenze zum körperlichen Kontakt mit ihr überschritten. Seine anzüglichen Bemerkungen und sein Verhalten seien jedoch „eine schreckliche Sache, die man als Frau durchmachen muss“.
»Nulltoleranzpolitik gegenüber jeglicher Form von Diskriminierung«
Als Schwab seine Organisation verjüngen wollte, soll er seinen Personalchef beauftragt haben, einige über 50-jährige Mitarbeiter zu entlassen, um so den Altersdurchschnitt zu drücken. Als dieser seine Zustimmung verweigerte, sei er prompt gefeuert worden.
Wenig überraschend bestreitet das WEF vehement die Vorwürfe und betont stattdessen seine „Nulltoleranzpolitik gegenüber jeglicher Form von Belästigung oder Diskriminierung“. Für ein Interview mit dem „Wall Street Journal“ stand der scheidende Schwab bislang nicht zur Verfügung. Forumssprecher Yann Zopf ließ lediglich wissen, dass die Zeitung „unsere Organisation, Kultur und Kollegen, einschließlich unseres Gründers, falsch darstellt“.
Zumindest in finanzieller Hinsicht verlässt der angeschlagene Schwab das Forum ohne Makel. Im Mitte 2023 abgeschlossenen Geschäftsjahr stiegen die Einnahmen auf über 400 Millionen Schweizer Franken.
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Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Domenico Fornas/Shutterstock