Ein Gastbeitrag von Stefan Stirnemann
Was uns Schweizern der Duden als landschaftliche Schreib- und Sprechweise gestattet, Fasnacht, klingt jenseits des Rheins Fastnacht, als ob es nicht die volle Nacht wäre. In Wahrheit ist es die finsterste Dunkelheit, auch am hellichten Tag, wie ein Gang durchs Maskentreiben lehrt. Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Es wird auf Schritt und Tritt jemand diskrimiert, wobei mir bewusst ist, dass es diskriminiert heissen müsste; aber wer die Form richtig verwendet, schliesst jene aus, die das nicht tun.
Ich habe ein Kind gesehen, das sich als Giraffe verkleidet hatte. Weiss dieses tückische Geschöpf nicht, dass auch Tiere ihre Rechte haben und eine Würde, die zu wahren ist? Die Giraffe ist ein Wesen eigenen Rechts und nicht etwas, was man sich, husch, am Morgen überzieht und am Abend wegwirft. Ein anderes Kind kommt mir schamlos als Apfel entgegen und hat sich damit auch eine fremde Identität angeeignet, eines rechtschaffenen Obstes nämlich, das unser Zusammenleben reich macht und gerade an einem Festtag Anspruch auf Dank hätte. Hand in Hand ziehen eine kleine Piratin und ein kleiner Pirat die Strasse, sichtlich zufrieden, das heisst ohne Gewissensbisse. Er trägt ein Schwert aus Holz im linken Händlein, sie einen hölzernen Dreizack im rechten. Haben denn die Piraten, diese Randständigen vergangener Zeit, die von der Gesellschaft auf die hohe See verdrängt wurden, wo sie einem höchst unsicheren und gefährlichen Erwerb nachgehen mussten – haben sie nicht genug gelitten? Man hat sie auf Schatzinseln ausgesetzt, mitsamt ihrem Schiff auf den kühlen Meeresgrund geschickt, in Fesseln gelegt und an einem trockenen Strick in die Höhe gezogen, bis ihnen die Luft ausging. Wenn man sie zur Fasnacht nicht etwa ehrt, sondern nachahmt und dem Lachen aussetzt, lässt man sie nochmals absaufen, und wer weiss, ob sie das überstehen. Da, schau, tanzt ein achtjähriger Indianer zu einigen Klängen Musik, die gerade in der Luft liegen; er trägt eine Jacke mit Fransen wie einst Lederstrumpf und hat vier Federn in seinem Stirnband. Er dreht sich mit anmutigen Schritten und hebt und senkt die Arme, und als er gewahr wird, dass ich ihn anschaue, lacht er mir zu. Ich aber lache nicht zurück; der traurige Ernst der Lage drückt mich, und dass ich mir sage, es sei nicht die Schuld der fröhlichen Kinder, es seien die pflichtvergessenen Eltern und Erziehungsberechtigten, es sei das Versagen der Lehrer, der Lehrerinnen und wessen sonst noch, die diese Kleinen machen lassen oder sogar anleiten, dieser Gedanke gibt keinen Trost.
Es sind ja nicht nur die Kinder unterwegs, im Gegenteil. Schon steht mir eine Gruppe von erwachsenen Kochenden im Weg, Köchinnen und Köchen, alle im weissen Schurz und mit einer roten Kunststoffnase, die sie auf die nichtswürdige echte gestülpt haben. So demütigen sie einen ganzen Berufsstand. Mein Kopfschütteln erhält neue Nahrung durch eine junge Frau, die als Hexe auftritt. Sogar einen Besen hält sie in der fest geballten Hand, und gerade mit diesem Symbol beschimpft sie das Andenken an weise Frauen, die schon in den Märchen der Brüder Grimm reichlich einstecken mussten. Es ist, als wolle sie alle gutmachenden Gedanken wegfegen, die hier am Platze wären. Wer einen Astronauten nachäfft, ist doppelt im Unrecht: Nachäffend verhält er sich wie ein Affe, verunehrt also dieses edle, uns so nahe Tier, und verballhornt öffentlich Experten, von denen unsere Zukunft auf fernen, klimasicheren Planeten abhängt. Ganze Musikgruppen marschieren auf, die mit ihren Instrumenten immer am Falschen und Unbeholfenen streifen, Guggenmusiken. Indem sie falsch spielen, verhöhnen sie alle, die richtig spielen, und indem sie es freiwillig tun, machen sie die klein, die unwillentlich neben den Notenlinien pauken und blasen, weil sie es eben nicht besser können.
Seitab in einer Gasse sind Basler Trommler unterwegs, an ihrer Spitze ihr Major; sie sind zu Gast in der fremden Stadt. Traubenbüschel von Wirbeln schlagen sie aus dem gespannten Fell, und die Rhythmen, zu denen sie im taktbewussten Schlenderschritt schreiten, treffen ins Herz. Die Trommelschlegel schänden die Gegenwart, da sie den Kriegslärm der Vergangenheit aufrufen und neuen Kriegen eine Bahn brechen. Mit ihrer herabhängenden Kopfbedeckung und ihren Sporthemden erinnern die Trommler an eine Weltgegend, wo letzthin ein grosses Fussballturnier gespielt wurde; sie machen alle nieder, die der Weltreligion jener Gegend zugewandt sind.
Viel Aufwand zum schlechten Zweck ist zwar nicht nötig. Schon wer sich nur farbige Kleckse auf Backen oder Stirn malt, spottet und macht sich lustig. Mit ihrer Lustigkeit zeigen die Lustigen ihre Verachtung für die, die nichts lustig finden. Wer tanzt, schliesst die aus, die nicht tanzen können oder wollen. Wer sich freut, rempelt die Freudlosen an. Ist aber die Fasnacht mit ihrer Verachtung und Ausgrenzung nicht nur ein Sinnbild? Der Mensch ist der Feind des Menschen, sagt das Sprichwort eines alten Volkes, das ich nicht nennen will, um es nicht zu kränken. Und der Wolf, der in diesem Sprichwort ursprünglich vorkommt, hätte schon längst aus ihm in die Freiheit entlassen werden sollen. Sagen wir es klar und deutlich: Jeder Mensch schliesst alleine schon dadurch, dass er vorhanden ist, die anderen Menschen aus. Und da er sich selber wichtig ist, macht er die anderen unwichtig. Die einzige Abhilfe wäre, zuhause zu bleiben und die Tür abzuschliessen.
Nun könnte jemand einwenden, eine junge weise Frau mit Worten, ein fröhliches Kind mit seinem Tanzen, dass Festtage wie die Fasnacht diesem Ausgrenzen gerade eine Grenze setzen und alle Grenzen öffnen.
Diese Einsicht stört den Zusammenhang und trübt die Unfreude, unterdrücken wir sie.
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Stefan Stirnemann arbeitet als Gymnasiallehrer (Latein) und Autor (Die Andere Bibliothek, Zeitungen und Radio der Schweiz und Deutschlands). Er ist Gründungsmitglied der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK).
Bild: privatMehr zum Thema auf reitschuster.de