Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:
„Jetzt die Zähne zusammenbeißen und durchhalten“, sage ich mir: „Der Endspurt ist entscheidend.“ Nein, es geht nicht ums Wettrennen, sondern ums Fliegen. Genauer gesagt das Fliegen mit Aeroflot.
Schwer schnaufend ziehe ich am hartnäckigsten Konkurrenten vorbei, einem kahl geschorenen Muskelpaket mit fingerbreiter Goldkette und weit flatternder Trainingshose. Auf den ersten 300 Metern sah ich nichts als seinen Stiernacken, doch dann ließ seine Kraft nach. Oder die Goldkette war zu schwer. Keuchend, aber freudig, komme ich am Flieger an. Als erster. Und das ist mein Glück.
Gymnastik vor Flug
Denn noch ist nicht alles verloren am Himmel über Russland. Gut, auf Auslands-Flügen gibt sich Aeroflot kapitalistischen Unsitten hin, nimmt Unworte wie Service in den Mund und bietet in properen Boeings unsozialistisch weiten Beinabstand.
Doch im Inland setzt die „Luftflotte“ auf gute sowjetische Tradition. So kümmert sie sich um Gesundheit und Fitness der „Passagiere“ (das Wort „Kunden“ wäre falsch am Platz).
Die Sorge um unser leibliche Wohl beginnt schon auf dem Flughafen in Kaliningrad, dem früheren Königsberg: Wir müssen nicht wie im Westen oder in Moskau in einen Zubringer-Bus steigen. Nein, wie freie Bürger dürfen wir zu Fuß über das ganze Rollfeld marschieren – sozusagen Jogging vor dem Flug.
Atemberaubende Wolken-Göttinnen
Wie gut, dass ich als erster ankomme. Nein, nicht etwa wegen der Stewardess an der Gangway. Zugegeben – auf Auslandsflügen müssen männliche Aeroflot-Passagiere mit heftiger Ablenkung rechnen – in Form von atemberaubenden Wolken-Göttinnen in kecken Uniformen. Doch Inlands-Passagiere werden in der Regel geschont – durch Veteraninnen der Luftfahrt.
Viele wurden offenbar zu Zeiten eingestellt, als die Sowjetunion auch in Gestalt ihres Flieger-Personals vor Augen führen wollte, wie gut sie die Lebensmittel-Versorgung im Land in den Griff bekommen hat.
Gratis Kleider lüften
Dank „Pole-Position“ darf ich mich als erster dünn machen und am Gangway-Geländer an einer Grazie im Rubens-Format vorbeischmiegen. Keine Sekunde zu früh. „Spinnt Ihr, wir sind doch noch am Betanken, Ihr dürft doch noch niemand reinlassen!“, schreit ein Techniker. Hastig stellt sich der Luft-Feldwebel mit dem ganzen Kampfgewicht mitten auf die Gangway, effektiv wie eine Panzersperre.
Mein Spurt über das Rollfeld hat sich gelohnt. Ich lasse mich oben in der artig herausgeputzten Tupoljew in meinen Sitz fallen, unter mir rüttelt das Kerosin lautstark in den Tank, und aus dem Fenster sehe ich hundert meiner Mitflieger auf dem Rollfeld. Sie dürfen bei eisigem Wind noch 15 Minuten frische Luft holen, sich abhärten und ihre Kleidung auslüften. Wer zu spät kommt – den segnet das Leben mit gratis Zusatzleistungen.
Fakir-Sitz in der Luft
Auch an Bord kann man sofort aufatmen. Nein, nicht wegen der Luft – die erinnert im hinteren Teil des Durchschnitts-Tupoljews Fliegers oft eher an eine Bahnhofstoilette der 70er-Jahre. Kostenloses Yoga sorgt für Entspannung: Man fühlt sich nämlich fast wie ein Fakir, wenn die Beine ständig gegen irgendwelche harten Teile des Vordersitzes stoßen.
Dafür kommt das Menschliche nicht zu kurz: Intimer Kontakt mit den Sitznachbarn an Knie und Ellenbogen bringt einem Menschen näher, denen man Minuten zuvor noch völlig fremd war.
Kind am Steuerknüppel
Besonders schweißt es zusammen, wenn ein Mit-Flieger bewegende Geschichten erzählt. Wie die von jenem Aeroflot-Airbus, der 1994 wohl deshalb abstürzte, weil der Pilot seinen kleinen Sohn ans Steuer ließ.
Der drückte aus Versehen den falschen Knopf – und brachte den Flieger in den freien Fall. Weil neben dem Piloten auch der Copilot aufgestanden war, um die Szene zu filmen, drückten die enormen Fliehkräfte offenbar beiden Richtung Tür, und sie kamen nicht mehr an ihre Steuergeräte ran.
Hiebe für Passagiere
Mit einem – wenn auch buchstäblichen – blauen Auge kam dagegen ein Passagier davon, der sich bei einem von Aeroflot verkauften Inlandsflug als Querulant entpuppte: Hatte er es doch gewagt, sich zu beklagen, weil die Besatzung zu betrunken war, um das Essen zu servieren. Angesichts solch unflätigen Benehmens zog der Steward Konsequenzen – und dem Passagier eins über den Kopf.
In ärztliche Behandlung kam er leicht verspätet, weil die Hälfte des servierten Essens statt auf den Klapptischen auf dem Boden des Fliegers gelandet war und das Aussteigen deshalb zum Hindernislauf wurde.
Flugziel Weltspitze
Auch mir machte das Essen Sorgen – wenn auch in ganz anderer Art: Das Bordmagazin drohte mit westlicher Völlerei. Aeroflot habe einen italienischen Chefkoch engagiert, hieß es da. Typische Probleme bei der Bordverpflegung wie trockene Beilagen, überkochte Nudeln, schlecht angemachte Salate oder einseitig gedünstetes Fleisch werde es künftig nicht mehr geben, verspricht der neue Küchenchef: „Wir wollen Aeroflot zu der Fluglinie machen, deren Bordverpflegung sich mit keiner anderen vergleichen lässt“.
Kulinarische Bruchlandung
In der Tat – meine Sorgen waren unbegründet: Zumindest im Inland sorgt sich Aeroflot um meine Linie – es gibt in den fast zwei Stunden an Bord nur ein winziges Fläschchen Wasser und zwei kleine Tüten Salz-Brezeln. Der Chefkoch im Bordmagazin hat nicht zu viel versprochen: Keine trockenen Beilagen, keine überkochten Nudeln undsoweiter – und nur mit wenigen anderen Fluggesellschaften zu vergleichen.
Sowjetischer Einheitsbrei
Plötzlich geht mir in 10 000 Meter Höhe ein Licht auf: Will Aeroflot die Passagiere auf die russische Wirklichkeit vorbereiten, für eine weiche Landung in der Realität?
Riesige Ankündigungen, gewaltige Ausgaben für ein neues Image und Reklame, schöne Fassade für den Westen, der fast zwanghafte Drang, zu den besten, den größten in der Welt zu gehören – und dann die ernüchternde Wirklichkeit, die in vielem an die Sowjetunion erinnert – als es an Bord ebenfalls nur Bonbons und Wasser gab.
Erinnert all das nicht haargenau an etwas? Exakt: Auch der Kreml verspricht ein westliches Menü mit Demokratie, Menschenrechten und Pressefreiheit – und serviert in Wirklichkeit Einheitsbrei nach Sowjet-Art.
Für meine Arbeit müssen Sie keine Zwangsgebühren zahlen, und auch nicht mit Ihren Steuergeldern aufkommen, etwa über Regierungs-Reklameanzeigen. Hinter meiner Seite steht auch kein spendabler Milliardär. Mein einziger „Arbeitgeber“ sind Sie, meine lieben Leserinnen und Leser. Dadurch bin ich nur Ihnen verpflichtet! Und bin Ihnen außerordentlich dankbar für Ihre Unterstützung! Nur sie macht meine Arbeit möglich!
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