Zwölf Jahre Haft für eine Spende 50 Dollar für ukrainische Hilfsorganisation als „Hochverrat“

Die folgende Nachricht kann in meinen Augen keinen empathischen Menschen kaltlassen. Mir geht sie ganz besonders nah, weil engen Freunden und Verwandten von mir ein ähnliches Schicksal drohen würde. Aber gerade wegen meiner Emotionen bei dieser Nachricht versuche ich zunächst, sie so sachlich und kühl wie irgendwie möglich wiederzugeben:

Ksenia Karelina, eine 33-jährige Balletttänzerin mit US-amerikanischem und russischem Pass, lebte bis vor Kurzem in den USA, bevor sie bei einem Besuch ihrer Eltern in Russland festgenommen wurde. Sie wurde zu zwölf Jahren Haft in einem russischen Straflager verurteilt, wegen Hochverrats. Dieser Hochverrat bestand nach Auffassung des Gerichts darin, dass sie eine Spende von 50 Dollar (ca. 47 Euro) an eine ukrainische Hilfsorganisation geleistet hatte. Die russischen Behörden machten geltend, dass das Geld für militärische Zwecke verwendet worden sei – etwa für Medizin für die Armee. Beweise für diese Behauptung konnten sie nicht vorlegen. Karelina, die unter sehr schlechten Bedingungen inhaftiert ist, wird voraussichtlich bis 2036 in der Strafkolonie bleiben.

Die junge Frau wurde mit verbundenen Augen zu ihrer Anhörung gebracht – eine Maßnahme, die in Russland selbst bei Schwerverbrechern nicht üblich ist. Ihr Freund, der Boxer Chris van Heerden, äußerte vor dem Urteil seine Sorge um sie und erklärte, er bete für ihre Freilassung. Karelina hatte bereits im Februar, kurz vor ihrer Verhaftung, ihre Freundin gebeten, ihre Kredite zu begleichen und ihr Auto zu verkaufen, was darauf hindeutet, dass sie mit ihrer Festnahme rechnete.

Mich machte die Nachricht völlig sprachlos.

Weil Freunde und Verwandte von mir selbst genau wie die Balletttänzerin an ukrainische Hilfsorganisationen spendeten – und damit bei jeder Heimreise mit einem Fuß im Gefängnis wären. Wenn etwa ihre Eltern schwer erkranken würden, könnten sie nicht mehr nach Russland, um ihnen beizustehen.

Dabei ist nicht nur eine Spende gefährlich: Wer den Krieg in der Ukraine als Krieg bezeichnet, muss ebenfalls mit Bestrafung rechnen. Das Wort ist tabu – stattdessen darf nur von einer „Spezialoperation“ gesprochen werden.

Ein guter Bekannter von mir, der Menschenrechtler Oleg Orlow, wurde im Alter von 70 Jahren zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. In einem Scheinprozess. Sein „Verbrechen“ – wie er es selbst in seinem letzten Wort schildert: „Ich werde wegen eines Zeitungsartikels angeklagt, in dem ich das in Russland etablierte politische Regime als totalitär und faschistisch bezeichnet habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Und damals dachten einige meiner Bekannten, dass ich übertrieben hätte.“

Orlow ist einer der anständigsten Menschen, die ich kenne. Er ist bescheiden, uneitel, mutig und setzte sich immer ohne Rücksicht auf persönliche Verluste für die Menschenrechte und für Unterdrückte ein.

2004, als Putin noch mehr Wert auf eine demokratische Fassade legte als heute, wurde er Mitglied des Menschenrechtsrates des Präsidenten. 2006 legte er dieses Ehrenamt nieder – weil er empört war, dass der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja nicht wirklich aufgearbeitet wurde.

Oleg kam bei dem Gefangenenaustausch Anfang April frei – unter anderem im Austausch gegen den Tiergartenmörder Wadim Krasikow. Der hatte am 23. August 2019 am helllichten Tag im Berliner Tiergarten Zelimkhan Khangoshvili ermordet – einen ehemaligen tschetschenischen Milizenführer und georgischen Staatsbürger, der in Deutschland Asyl suchte.

Putins Unterstützer im Westen und auch unter den alternativen Medien bestritten lange, dass Krasikow ein Agent war – sie standen stramm zur Kreml-Linie, dass dies westliche Propaganda sei. Bei der Rückkehr nach Moskau empfing Präsident Wladimir Putin den verurteilten Mörder noch am Flughafen mit einer Umarmung und lobte ihn als „Patrioten“ – womit er faktisch dessen Agententätigkeit zugab.

Weniger Glück als Orlow hatten die anderen politischen Gefangenen in Russland. Wie etwa der Moskauer Kommunalpolitiker Alexej Gorinow. Der 63-jährige Rechtsanwalt und Menschenrechtler sitzt wegen seiner Kritik am Ukraine-Krieg in Haft. 2022 wurde er zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er in einer öffentlichen Sitzung des Munizipalparlaments im Moskauer Bezirk Krasnoselsky die russische Invasion in der Ukraine als „Krieg“ bezeichnet hatte. Dies wurde als „Verbreitung von Falschinformationen über die russischen Streitkräfte“ gewertet, was gemäß den strengen Gesetzen, die kurz nach Beginn der Invasion erlassen wurden, strafbar ist. Gorinow war einer der ersten prominenten Politiker, der wegen der offenen Kritik an der Kriegsführung in der Ukraine verurteilt wurde.

Gorinow leidet unter erheblichen gesundheitlichen Problemen, darunter Atembeschwerden und Herzprobleme. Laut seinen Anwälten erhält er keinen angemessenen Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Westen wollte auch ihn in den großen Gefangenenaustausch einbeziehen, aber sein Name wurde in letzter Sekunde vom Kreml gestrichen – obwohl seine Freilassung aus humanitären Gründen besonders wichtig gewesen wäre und ihm der Tod im Gefängnis droht.

Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Und als jemand, für den Russland die zweite Heimat ist, der Zuhause fast nur Russisch spricht, dessen beide Töchter halbe Russinnen sind, und der dieses Land innig liebt, tut jedes einzelne Schicksal besonders weh. Die wunderbaren Menschen in diesem wunderbaren Land haben so etwas nicht verdient.

Ich weiß: Jetzt wird das Gegenargument kommen, dass bei uns doch auch viel Unrecht geschehe.

Das stimmt. Bei uns sind Menschen in Haft gekommen, weil sie die TV-Zwangsgebühren nicht bezahlen; in Großbritannien wurden gerade dieser Tage zahlreiche Menschen wegen Posts in den sozialen Medien in den Knast gesteckt, bei uns Ärzte, weil sie sich dem staatlichen Corona-Terror widersetzten.

All das – und noch viel mehr – ist ohne jeden Zweifel gruselig.

Aber genauso gruselig finde ich es, Unrecht durch den Hinweis auf anderes Unrecht zu relativieren.

Wenn mich jemand verprügelt, bringt es mir wenig, wenn jemand daraufhin sagt: Reg Dich nicht auf, andere werden auch verprügelt!

Jeder Fall von Ungerechtigkeit, egal wo er geschieht, muss ernst genommen und darf nicht relativiert werden.

Es ist wichtig, dass wir nicht in eine Haltung verfallen, die das Leid Einzelner herunterspielt, indem wir auf andere Missstände verweisen. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, Unrecht als solches zu erkennen und konsequent für Gerechtigkeit einzutreten, unabhängig von den Umständen oder dem Ort, an dem es geschieht.

Und die vielen, die Wladimir Putin als Alternative sehen, sollten das in meinen Augen kritisch hinterfragen.

Ich bin der Letzte, der die Zustände hierzulande schönredet oder relativiert.

Aber ausgerechnet im System Putin die Alternative zu sehen – das halte ich für einen großen Irrtum. Der leider weit verbreitet ist, weil Putins Propagandisten allgegenwärtig sind.

So wenig ich irgendjemanden bekehren will oder einen Anspruch erhebe, dass meine Ansichten fehlerfrei sind – so wenig werde ich meine tiefen Überzeugungen verleugnen, nur weil sie viele nicht hören wollen. So wenig ich auf der einen Seite die „Haltungs“-Journalisten ausstehen kann, so kritisch sehe ich auch Kollegen, die ihren Lesern nach dem Mund reden bzw. schreiben.

Und umso mehr achte ich Menschen, die eine ähnliche Herangehensweise haben wie ein Leser, der mir kürzlich schrieb: „Ich teile nicht immer Ihre Meinung, aber genau das macht Ihre Arbeit für mich besonders wertvoll. Es ist diese Herausforderung, sich an Ihren Ansichten zu reiben und darüber nachzudenken, die den Diskurs lebendig hält.“

Solch ein gegenseitiger Respekt vor unterschiedlichen Ansichten ist es, was eine wirklich demokratische Debatte ausmacht – und was ich an meinen Lesern so sehr schätze.

PS: Warum ich den Politiker Putin – im Gegensatz zum Land Russland – so kritisch sehe, können Sie hier in meinem Buch „Putins Demokratur“ nachlesen – der Quintessenz meiner 16 Jahre als Korrespondent in Russland. Ich habe extra den Vertrag mit meinem Verlag auslaufen lassen, um das Buch kostenlos für Sie auf meiner Seite zur Verfügung zu stellen.

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