Rationalität des Bösen Angriffskrieg: Warum Menschen das Offensichtliche ablehnen

Von Ekaterina Quehl
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„Wurden Sie schon beleidigt?“, fragte mich neulich ein Verkäufer, dem ich meinen russischen Reisepass vorzeigen musste. „Ich persönlich nicht, habe aber schon einiges gehört“, antwortete ich. „Ja, ja, alles Nazis“, sagte er. „Meinen Sie die Russen?“, erwiderte ich. „Nein, nein, diejenigen, die Sie als solche beschimpfen.“

„Die haben dann Ärzte und Frauen rausgebracht und das Krankenhaus beschossen“. „Wer, die Russen?“ „Neein! Die Ukrainer!“ – hörte ich vor einigen Tagen ungewollt einen Dialog in einem Restaurant.

Von dem, was ich in letzter Zeit von vielen Menschen gehört und gelesen habe, sträuben sich mir die Haare – noch mehr als von der Kreml-Propaganda selbst. Für Menschen, deren Herz blutet von dem, was das Regime meines Heimatlandes gerade in der Ukraine macht und die versuchen, wenigstens etwas zu helfen – für solche Menschen ist es schlicht unbegreiflich, wie man auch nur für einen Moment Putins Verbrechen als solches in Frage stellen kann.

Viele unserer Leser schreiben, sie glauben den großen Medien nicht, was sie über den Krieg schreiben, weil sie per se den großen Medien nicht glauben. Auch wenn ich einen solchen Gedankengang nachvollziehen kann, weil ich selbst kein Vertrauen in die großen Medien habe, kann ich jedoch nicht für die Einschätzung dessen, was aktuell geschieht, diese pauschale Orientierung wählen. Sie würde bei mir spätestens am inneren Wertesystem und an einfacher Logik brechen. Ewgenij Roismann, bekannter russischer Oppositioneller und ehemaliger Bürgermeister der Stadt Jekaterinburg, sagte neulich in einem Interview: „Wenn ein Mensch länger als eine halbe Sekunde braucht, um einzuschätzen, ob dieser Angriffskrieg gerechtfertigt werden kann oder nicht, dann ist es nicht mehr normal.“

In den letzten Wochen habe ich mich ständig gefragt, wie fragil der innere Kompass eines Menschen eigentlich sein muss, um auch nur den geringsten Zweifel daran zu hegen, es gebe keine Rechtfertigung dafür, was gerade in der Ukraine geschieht: „Ja, aber die Nato“ … „Ja, aber die ganzen Rechtsextremen…“ … „Es kann nicht sein, dass die ganze Schuld nur einer Seite zugeschrieben wird.“ Diese ganzen „Ja, aber“ sollten doch irgendwann an die Grenzen der einfachen Logik stoßen.

Kreml-Propaganda in Europa

Neben Russland funktioniert auch hier in Europa die Kreml-Propaganda bestens. Seit vielen Jahren wurden über zahlreiche Kanäle bestimmte Narrative in die Köpfe der Menschen gesetzt. Über Funktionäre aus Politik und Wirtschaft, nützliche Idioten aus unterschiedlichen Organisationen, über Internet-Plattformen, die sich häufig als kritische Medien positionieren, soziale Netzwerke und letztlich über die sogenannten Putins Trolle (siehe unten). Es werden bestimmte Informationen verbreitet, deren Gehalt an Wahrheit je nach Bedarf angepasst werden kann. Mit sogenannten Expertenmeinungen, bestätigenden Umfragen, echten Dokumenten, Berichten vor Ort, Enthüllungen und letztlich mit selbst initiierten brisanten Ereignissen, die das Narrativ bestätigen sollen – immer sehr viel und immer widersprüchlich. All das bleibt selbst in kritischen Köpfen sitzen. Und es entsteht zumindest ein Zweifel, ob da eventuell doch etwas dran sein könnte.

Bei Ereignissen wie diesem – und es ist ein Angriffskrieg – muss man aber kein Experte sein, um zu verstehen, dass hier Schwarz als Weiß verkauft wird. Es reicht schon ein wenig Logik, um festzustellen, dass das Bild nicht stimmig sein kann. Zumal die Propaganda-„Vermittler“ sich selbst häufig verzetteln und über ihre Kanäle doch ziemlich unstimmige und absurde Informationen vermitteln. So dass man sich über die Naivität derer, die sie für bare Münze nehmen, noch mehr wundert als über die Dummheit derjenigen, die sich solche kreativen Ideen einfallen lassen.

Nicht zu unterschätzen ist aber, dass Putins Narrative verstärkt gerade über solche Kanäle vermittelt werden, die in Deutschland und in anderen europäischen Ländern als unabhängig und kritisch gelten und zu anderen Themen wie etwa Corona so berichten, wie auch andere alternative Medien. Und somit an Vertrauen bei kritischen Lesern gewinnen. Doch über den Angriff Putins auf die Ukraine berichten sie nichts anderes als der Erste Kanal in Russland.

Und genau hier platzt die Propaganda-Schablone für mich.

Denn die russischen unabhängigen Medien, die wenige Tage nach dem Kriegsanfang allesamt per Gesetz mundtot gemacht wurden, berichten immer noch über Ersatzkanäle – heldenhaft und unter großem Risiko – paradoxerweise etwa so, wie wir es heute in der Welt oder F.A.Z. lesen können. Nämlich über die zerstörten Städte und Tausende unschuldige Opfer. Wurden die großen deutschen Medien etwa von den kritischen russischen Medien gekauft? Oder haben die deutschen staatsnahen Medien die russischen kritischen Medien gekauft? Oder hat etwa die Ukraine alle Medien gekauft, damit sie darüber berichten, dass die russische Armee ihre Städte zerstört und die friedliche Bevölkerung tötet, währenddessen dies in Wahrheit die bösen ukrainischen Faschisten selbst machen?

Und wie kommt man aus diesen Widersprüchen jetzt raus?

Vielleicht, wenn man endlich anfängt, Widersprüche dort zu sehen, wo sie tatsächlich vorhanden sind.

Putin, der monatelang diejenigen Stimmen verspottet hat, die über seinen möglichen Angriff auf die Ukraine berichtet haben, tut nun genau das.

Kurz darauf führt er massive Zensur ein, so dass die Mehrheit der Menschen in Russland sich in einer völligen Informationsblase befindet. Wenn doch alles die Wahrheit sein soll, was aktuell im russischen Fernsehen berichtet wird, warum soll es dem Regime stören, wenn jemand etwas anderes behauptet? Wie groß muss doch die Angst der Regierung sein, wenn schon denjenigen, die das Wort „Krieg“ im Kontext des Angriffs auf die Ukraine nennen, eine Haftstrafe droht.

Die Hauptbegründung für den Angriffskrieg Putins lautete noch zu Anfang, die Ukrainer müssten von den ganzen Faschisten befreit werden. Die Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden. Schon zwei Wochen später rechtfertigte Kreml den Angriff damit, dass die Ukraine sonst selbst Russland angegriffen hätte.

Kurz vor dem Krieg sagte Putin, Ukrainer und Russen seien ein Volk und in den ersten Wochen des Krieges behauptete die Kreml-Propaganda, in ukrainischen Bio-Laboren würden ethnische Bio-Waffen entwickelt, die über Vögel übertragen werden können und speziell auf Russen wirken sollen.

Die Kreml-Propaganda berichtet, ukrainische Faschisten zerstörten ihre Städte selbst, damit sie die Russen nicht bekommen, und benutzten die friedliche Bevölkerung als Schutzschilde. Warum haben sie ihre Städte dann davor nicht zerstört und Menschen in Frieden leben lassen? Und erst als die Russen kamen, haben sie angefangen, ihr Land zu vernichten?

Es reichen schon wenige Beispiele, um das Absurde in solchen Behauptungen zu erkennen. Ich frage mich manchmal, was das für „Profis“ sind, die nicht mal mithilfe der stimmigen Chronologie in der Lage sind, etwas Plausibilität in ihre „Berichterstattung“ reinzubringen.

Der Moral-Spiegel

Jeder kennt die Mechanismen der Meinungsbildung und dennoch wirken sie. Selbst auf Menschen, die in keiner Diktatur mit Zensur leben, sich stets vielseitig informieren können und die ein demokratisches Verständnis von Meinungsfreiheit haben. Denn es ist unglaublich schwer, sich ein solches Ausmaß an Manipulation vorzustellen. Wenn man diese erkennt und sich über die Dimension der Lüge im Klaren wird, muss man unweigerlich sein eigenes Wertesystem in Frage stellen. Und das möchte niemand.

Frei nach dem bekanntem russischen Politologen und Putin-Kritiker Waldimir Pastuchow: Ein Mensch kann nicht lange in einem Zustand leben, in dem er sich selbst ständig in einem Moral-Spiegel ansehen muss. In dem er auch sehen muss, dass er sich im endlosen Bösen befindet. Ein Mensch ist ein ethisches Wesen. Und wenn er ein ethisches und reflektierendes Wesen ist, dann bleibt ihm in einer solchen Situation entweder nur noch ein Suizid oder er soll für sich selbst eine Logik entwickeln, mithilfe derer er sich mit diesem Bösen irgendwie anfreunden kann. Es heißt Rationalität des Bösen.

PS: Ich bin Russin, und russophob zu sein, kann man mir nun mal sehr schlecht vorwerfen. Aber auch dann bin ich mir dessen bewusst, dass unter diesem Beitrag Trolle besonders aktiv sein werden. Ich sehe es als Beweis, dass das Thema des Beitrags ein besonders wunder Punkt ist.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de.

Bild: Shutterstock
Text: eq

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