Wahrscheinlich ist es ein großer Fehler, in diesen aufreibenden Tagen aufmerksam durchs Leben zu gehen. Und die Augen offen zu halten für Informationen von jeder Seite. Denn dann droht kognitive Dissonanz. So war erst kürzlich in der Sendung „Drehscheibe“ im gebührenfinanzierten ZDF ein Beitrag zu sehen, der das Tagen von Masken in den höchsten Tönen lobte. Das Thema: Was kann man in der Corona-Zeit Gutes für die Lunge tun? Dazu gab der Mainzer Sender fünf Tipps.
Neben Sport, gesundem, etwa mediterranem Essen und Dampf wird dort ausgerechnet die Mund- und Nasenbedeckung als gesundheitsfördernd empfohlen. Dass wenige Augenblicke zuvor noch die wirksame Kraft des „Aushustens“ empfohlen wurde („in dem Abhusten kommen die Bakterien und die Viren mit raus“), war für die Redakteure der Sendung offenbar kein Widerspruch. Wörtlich heißt es in dem Beitrag: „Fünfter und letzter Tipp: Maske tragen.“ (anzusehen hier ab Zeitmarke 32:00) Sodann sagt Prof. Dr. Thomas Kurscheid: „Die Maske hat nicht nur Nachteile, wie wir es häufig empfinden, sondern auch viele Vorteile. Weil: Sie trainiert die Atemmuskulatur. Ich habe natürlich einen erhöhten Widerstand, wenn ich da durchatme, das macht uns hier stärker“, der Professor zeigt auf seine Brust: „Was gut ist für die Lunge! Und zweitens gewöhne ich mich an den etwas höheren CO₂-Spiegel in der Atemluft, und das wiederum verbessert unsere Kondition“.
Es folgt Wohlfühlmusik, und daraufhin „die Moral aus der Geschichte“ von der Sprecherin: „Maskenpflicht gleich doppelt sinnvoll: Schützt vor Keimen, trainiert die Lunge, und das ganz nebenbei. So ist sie bestmöglich gewappnet gegen Viren. Und nicht vergessen: Nebenbei immer wieder mal tief durchatmen“. Das erinnert an einen Beitrag im „Stern“, in dem die Maske als Symbol der Freiheit gefeiert wurde (siehe hier).
Interessant wird all das vor dem Hintergrund einer Empfehlung aus einer Hausmitteilung des Bundestages vom 28. August 2020, die gerade im Internet kursiert. Die klingt nicht so, als ob das Maskentragen hilfreich für die Gesundheit wäre::
„Bereits nach 30 Minuten Tragedauer kann es je nach Art der Mund-Nasen-Bedeckung zu einem signifikanten Anstieg der CO₂-Werte im Blut kommen, da die ausgeatmete Luft unter Umständen nicht so gut entweichen kann. Ein ständiges Aus- und wieder Anziehen der Mund-Nasen-Bedeckung ist aber auch nicht sinnvoll, da so das Risiko einer Kontamination erhöht wird. Zwischendurch sollte man sie also zum Durchatmen eher unters Kinn schieben, aber weitertragen.“
Vielleicht haben der gemeine Gebührenzahler und der Bundestagsabgeordnete und -mitarbeiter verschiedene Lungen? Beziehungsweise ganz unterschiedliche physische Voraussetzungen? Wie sonst kann es sein, dass die Maske für den gemeinen ZDF-Zuschauer ein Gesundheitstipp ist, für Menschen im Bundestag aber riskant? Haben wir gesundheitlich angeschlagene Volksvertreter? Die empfindlicher sind als ihre Wähler? Fragen über Fragen. Man verzeihe mir den schwarzen Humor. Aber ohne den ist vieles schwer zu ertragen in diesen Zeiten.
Ich dachte zuerst, die Hausmitteilung könnte ein Fake sein. Auf Anfrage bestätigte aber der Bundestag ihre Echtheit:
Sehr geehrter Herr Reitschuster,
die von Ihnen angesprochene dringende Empfehlung für das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (MNS) ist kurz nach Erscheinen überarbeitet worden, da diese teilweise fehlerhaft war.
Inzwischen ist die Entwicklung noch weitergegangen und der Bundestagspräsident hat eine Allgemeinverfügung erlassen, die die Pflicht zum Tragen eines MNS enthält.
Weitere Informationen hierzu finden Sie in unserer Presseinformation vom 5. Oktober 2020: https://www.bundestag.de/presse/pressemitteilungen/pm-201005-maskenpflicht-797132
Den vollständigen Text der Allgemeinverfügung des Bundestagspräsidenten finden Sie auf unserer Website: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw41-allgemeinverfuegung-masken-795794
Mit freundlichen GrüßenXXXX XXXXX
Stv. Sprecher
Pressestelle
Ob auch die Stelle mit den CO₂-Werten im Blut zu den „teilweise fehlerhaften“ Passagen gehört, bleibt damit unklar. Ganz unabhängig davon: Die Angelegenheit zeigt, wie schnell sich der Stand von Medizin und Forschung ändern kann. Die Behauptung im ZDF, Masken seien gut für die Gesundheit, ist angesichts dessen gewagt. Die Widersprüche zeigen, wie sinnvoll deshalb eine breite öffentliche Diskussion wäre. Und das Anhören und Erörtern von Zweifeln und Bedenken – statt deren Tabuisierung und Verteufelung.
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Text: br