Es ist die Quadratur der Doppelmoral. Einerseits lassen viele ideologische Moralapostel keine Gelegenheit aus, um ihre politischen Gegner als „Nazis“ zu diskreditieren. Andererseits schlagen sie sofort mit der Moralkeule, sofern diese selbst geschichtliche Vergleiche machen. Jetzt ist auf dieser nach oben offenen Richterskala der Absurdität und Doppelmoral ein neues Stadium erreicht: Auf dem Bundesparteitag der Grünen verglich die 2016, unter anderem für ihr Buch „Gegen den Hass“, mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Carolin Emcke „Klimaforscherinnen“ mit Juden: „Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen und die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.“
Emcke, die unter anderem für die Süddeutsche Zeitung schreibt, erntete mit dieser Aussage heftige Kritik in den sozialen Medien:
Über Maaßens Worte wurde kritisch diskutiert, für „Jana aus Kassel“ gab es Häme. Beides zu Recht. Eine solche Debatte ist nun notwendig über die Worte von Emcke, den Applaus von Göring-Eckardt, das ergriffene Lauschen von Baerbock und Habeck. @welt https://t.co/Gi3t3gKQ1r
— Johannes Boie (@johannesboie) June 12, 2021
„Gruppe XYZ sind die neuen Juden“ ist immer daneben. Juden sind die neuen Juden, denn das Problem heißt Antisemitismus – und das gibt es noch immer.
— Aras-Nathan (@Aras_Nathan) June 12, 2021
https://twitter.com/irgendeinGutme1/status/1403709253777567748
Frau Emcke ist Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels und des Carl-von-Ossietzky-Preises wegen ihres "Einsatzes gegen Hass und Ausgrenzung".https://t.co/7oaCSqUlgp
— Alexander Kissler (@DrKissler) June 12, 2021
Danke an @C_Emcke für eine große Rede für Aufklärung, für Wahrheit, die zumutbar ist, für die Wirklichkeit. Es ist eine Ehre, in diesem Sinn Politik zu machen
— Katrin Göring-Eckardt (@GoeringEckardt) June 11, 2021
Wahlkampf könnte besser laufen. pic.twitter.com/iR9HiBOzRi
— Kilian Pietsch (@kilianpietsch) June 12, 2021
Aber auch Unterstützung für Emcke gibt es:
Jana aus Kassel hat sich mit Sophie Scholl verglichen.
Carolin Emcke setzt die Angriffe gegen Klimaforscher mit den Verschwörungstheorien der Querdenker und eines Maaßens in Beziehung.
Sehe da himmelweite Unterschiede.
— Alf Frommer (@alf_frommer) June 12, 2021
Angespielt wird hier – und in vielen ähnlichen Tweets – auf den Auftritt von „Jana aus Kassel“. Die junge Frau, die eher zufällig die Bühne einer kleinen Querdenker-Demonstration betrat, um dort spontan etwas zu sagen, geriet massiv unter Kritik, weil sie äußerte, sie als Maßnahmenkritikerin würde sich ein bisschen wie Sophie Scholl fühlen. Wobei hier die große Frage ist: Wie kann man hier eine völlig unbekannte junge Frau neben eine vielfach ausgezeichnete Publizistin setzen, die auf dem Parteitag der Grünen auftritt, die schon bald die Kanzlerin stellen könnten. Wer den Unterschied nicht sieht, dem sind völlig alle Maßstäbe verrückt.
Die Aussage Emckes ist auch einfach falsch. Denn es gehört wohl wenig Mut dazu und man muss keine große Sorge haben, ausgegrenzt zu werden, wenn man in Fragen des Klimawandels die vorherrschende Meinung vertritt. Genau das Gegenteil ist der Fall: Kritiker dieser vorherrschenden Meinung werden ausgegrenzt und müssen mit schwerwiegenden Folgen rechnen.
Eines muss doch klar gesagt werden, frei nach Tucholsky: "Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Einklang zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Ja".
PS für Ironie-Resistente – Tucholsky spricht vom "Widerspruch" und lautem "Nein" https://t.co/O51ttU9dTy
— Boris Reitschuster (@reitschuster) June 12, 2021
Brisant ist er Fall auch vor dem Hintergrund der in meinen Augen völlig an den Haaren herbeigezogenen Antisemitismus-Vorwürfe gegen den früheren Verfassungsschutzchef und CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen. In dem Fall wird nach Ansicht von Kritikern sogar das überaus heikle und schmerzhafte Thema missbraucht für eine Diskreditierung des politischen Gegners und echter Antisemitismus damit verharmlost. „Es ist äußerst befremdlich, wie der Vorwurf des Antisemitismus hier strategisch eingesetzt wird. Als jüdische Gemeinschaft erwarten wir von der Politik, dass Antisemitismus entschieden und mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates bekämpft wird“, sagte ein Vertreter der jüdischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen im ZDF: „Wer Antisemitismus nutzt, um im Wahlkampf zu punkten, verhöhnt dessen tägliche Opfer.“
Die ganze Causa zeigt, wie vergiftet die politische Atmosphäre und das Diskurs-Klima in Deutschland sind. Einerseits auf fast allen Seiten bei vielen eine geradezu manische Fixierung auf Vergleiche und Parallelen zum Dritten Reich (auch ich selbst komme da leider zu oft in Versuchung, versuche allerdings, so gut es geht zu widerstehen). Damit einhergehend die fast schon ritualisierte Instrumentalisierung der unvorstellbaren Verbrechen der Nationalsozialisten (die dabei fast immer abgekürzt als „Nazis“ bezeichnet werden, so fällt der Namensbestandteil „Sozialisten“ weg). Und andererseits ständige Empörung darüber, wenn das andere politische Lager das Gleiche tut, was man selbst ständig macht.
Anders als mit Hysterie ist das alles kaum zu erklären.
Bemerkenswert ist auch, dass sowohl Baerbock als auch Habeck Emckes virtuellem Auftritt gespannt und offensichtlich auch geneigt, ja beinahe andächtig folgten. Sie applaudierten brav und hatten offenbar keinerlei Problem mit dem problematischen Satz. Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner sagte der BILD, Emcke wäre „über jeden Verdacht des Antisemitismus erhaben und hat in ihrer Rede die Logik der Demagogie aufgedeckt“.
Die Bösen sind für diejenigen, die für sich selbst das Gutsein und die Moral gepachtet zu haben glauben, eben immer die anderen.
Selten war Doppelmoral und Heuchelei so offensichtlich.
Bild: Parzi/Wikicommons/CC BY-SA 3.0
Text: br