Schreckensvisionen, die reale Gestalt annehmen Literarische Dystopien und der politisch-gesellschaftliche Status Quo

Ein Gastbeitrag von Gunter Weißgerber. Weißgerber war Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90, Mitbegründer der Ost-SPD, Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages 1990-2009.

„Die Freiheit Mensch zu sein beruht auf der Freiheit des Urteilens, der Freiheit der Rede, der Freiheit des Handelns, der Freiheit sich zusammenzuschließen und der Freiheit der Bewegung.“ (Manifesto Liberale, Ulrich Schödlbauer auf GlobKult)

Angela Merkel bestimmt seit 2005 die Richtlinien der Politik der Bundesregierung. Nicht etwa die Richtlinien der Politik der Res Publica bzw. dieser Gesellschaft. Dieser Unterschied zur Bundesrepublik vor 2005 ist unbedingt der gewissenhaften Erwähnung wert! Seit also Angela Merkel im Verbund mit einem Großteil des deutschen Feuilletons ihre Richtlinien, genauer, das, was sie darunter versteht, stemmt, geht das Vertrauen in die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates so verloren wie das Wissen um den Unterschied zwischen dem, was eine Bundesregierung will und der Gesellschaft zumuten kann, in gleichem Maße verschwindet. Mit ihrer verwerflichen Moralattitüde erhebt sie sich über das, was einen akzeptierten und funktionierenden Rechtsstaat ausmacht: die gleichermaßen für alle geltenden Regeln. Im Jahr sechzehn der Regentschaft von Frau Merkel gilt faktisch nur noch, was diese Frau erfindet und verkündet. Die Plebs weiß nur noch: Links ist gut, rechts ist böse. Und was gut oder böse, links oder rechts ist, das deutet die Frau im Kanzleramt und lässt es öffentlich spüren.

Was an Straftaten Rechtsaußen zu Recht als Verbrechen vorgeworfen wird, wird im Fall von Linksaußen beschwiegen, kommt nicht vor. Die Antifa kann sich des sicheren Gefühls nicht erwehren, von der Regentin pfleglich behandelt zu werden. Das alles und noch viel mehr lässt Ulrich Schödlbauer nicht mehr los. Rastlos schreibt sich der im besten Sinne liberale Intellektuelle die Seele wund. Artikel, Essays, Bücher am laufenden Band. Ulrich Schödlbauer sieht es als seine staatsbürgerliche Pflicht, sich in die Dinge seiner Res Publica einzumischen.

Ob es sich um »Entfesselte Schrift« (2018), »Macht ohne Souverän« (2020), oder aktuell »Die Grenzen der Welt« (2021) handelt, immer wieder sucht der Autor die Mechanismen, die unablässig gegen die immer gefährdeten Positionen der Idee des freien Individuums in Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat so offen wie verdeckt anstürmen, zu ergründen und vor ihnen zu warnen. Dabei macht er es dem Leser nicht leicht. Kurze, knappe, hingeworfene Sätze sind nicht seine Mittel. Schödlbauer muss man lesen, drüber hinwegfliegen ist nicht ratsam.

In neunzehn Essays beginnend mit »Die Grenzen der Welt« (S. 11) über »Croces Türken« (S. 28), »Über den allegorischen Charakter der Kultur« (S. 42), »Im Labyrinth des Heiligen« (S. 68), »Coverversion. Giorgio Agamben und die Seinen« (S. 91), »Die Wirksamkeit der Scham« (S. 107), »Elitärer Egalitarismus« (S. 141), »Sarrazin: Der asymmetrische Sexus« (S. 160), »Denkverbrechen« (S. 173), »Anmerkungen zur Reformgesellschaft« (S. 192), »Exkurs über den Exzess« (S. 212), »Lektüre des Neuen« (S. 230), »Bildungsmanöver« (S. 261), »Lügen als eine Signatur der Moderne« (S. 284), »Demokrat sein. Eine Replik« (S. 297), »Die Ordnung des Geldes« (S. 312), »Staatskrise als Menetekel der Moral« (S. 326) bis zu »Klima und Apokalypse« (S. 332) nähert sich der Autor in »Die Grenzen der Welt« von vielen Seiten seinem Unruhepol der Gefährdung, der sich selbst nicht schützen wollen- oder könnenden Zivilisationsinsel namens Freiheit innerhalb von Grenzen der Welt, die so wenig definiert wie sicher sind. Die Grenzen der Welt sind, obwohl nicht erkennbar, immer unter Druck und werden ständig verschoben. In der für Freiheit und Demokratie verheerenden und bleigewordenen Zeit von Frau Merkel sind diese Grenzen eng geworden. Libertas, der römischen Göttin der Freiheit fällt das Atmen schwer und es darf sie nur als gute Göttin Libertas im Sinne von Merkels Moral geben. Es ist die Kreuzung von »1984« mit »Fahrenheit 451« mittels der technischen Mittel der digitalen Welt. Das treibt den Autor um.

Jüngstes Ergebnis der Dystopie »1984 / Fahrenheit 451« ist der Fall der Popsängerin Nena, die jüngst noch im linken Künstlermilieu verortet war und dort jetzt ausgeschlossen wird. Ihr Vergehen: Nena machte Politik auf der Bühne. Nicht die staatlich gezüchtete, sondern ihre eigene. Mit dem so allgemein verständlichen und für die Allgemeinheit als Signal formulierten Satz „Es war uns wichtig und daher auch bereits im Vorfeld vertraglich vereinbart, dass die Konzerte nicht als politische Bühne genutzt werden dürfen“ des Veranstalters Dennis Bahl wissen jetzt alle Teilnehmer der nunmehr geschlossenen Gesellschaft Bescheid: Wer Nena einen Auftritt bietet, macht sich schuldig gegen das Gute und wird ebenfalls in den Senkel gestellt. Der Veranstalter stellt sich direkt neben die Existenzvernichter der SED und des MfS. Ohne rot zu werden. Politik auf der Bühne wird nur akzeptiert, wenn sie von Haltungskünstlern abgesondert wird. Ein Déjà-vu für nicht demente Ost- und Westdeutsche, die an Zahl leider immer geringer zu werden scheinen. Auch das gehört ganz sicher zu den Schmerzen Ulrich Schödlbauers.

„Ein klarer Fall von Selbstzensur: die karrierefördernde Formulierung aus dem Jahre 1941 weicht der unmaßgeblichen Gebärde dessen, der weiß, dass gegen historische Entwicklungen kein Kraut gewachsen und Licht ohne Schatten ohnehin nicht zu haben ist.“ (S. 12).

Ulrich Schödlbauer seziert das Dilemma Hans Georg Gadamers (1900-2002), dem in der Bundesrepublik hochdekorierten Philosophen, der trotz seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus „aus SS-Sicht in seiner Haltung zum Nationalsozialismus als ‚indifferent‘ klassifiziert“ war (Wikipedia). Nutzte er jeden Vorteil, der ihm geboten wurde, und versuchte den Abstand zum System und dessen Machthabern kontrolliert zu halten oder war er einfach nur ein Wendehals, der sich immer und überall anpasste? (S. 11).

Ulrich Schödlbauer stellt Gadamers Dilemma folgendermaßen in den Raum:

„Dabei verfällt Herder so wenig in die Selbstzufriedenheit des späteren Historismus, dass er den Vorzug des weiten Umblicks, den die Stellung der eigenen Gegenwart, ihr Ort gleichsam auf den feinsten und höchsten Ästen und Verzweigungen des großen Baumes der Menschheit, mit sich bringt, zwar erkennt, aber mit dem des an der Geschichte und dem Bild der Gegenwart belehrten Erziehers auf Konzentration der Kräfte der Nation dringt.“ (Gadamer 1942). (S. 12).

„[…], aber sich auch die Schwächung nicht verbirgt, die in solcher Verfeinerung liegt“ (Gadamer 1967).

… die Nation und alle damit in verhängnisvollen Zusammenhang stehenden Unwägbarkeiten in der öffentlichen Diskussion sind 1967 verschwunden. Dem neuen Zeitgeist geschuldet, passfähig gemacht.

Der Autor schreibt im Heute, nicht im Gestern. Und es passt zu seinen »Notizen zur Deutschen Einheit« (Heidelberg 1994).

„Die Beispiele zeigen: Scham lässt sich induzieren. Die an den Einzelnen ergehende soziale Forderung, Scham zu empfinden, obwohl die Gründe dafür unklar bleiben oder nicht zu eruieren sind, kann Schamempfindungen auslösen, die, eine zynische Einstellung der Umgebung vorausgesetzt, sich nach Belieben ausbeuten lassen. […] Dabei werden Dynamiken in Gang gesetzt, die schwer beherrschbar sind, weil das Spiel mit der Scham nicht nur polyvalent, sondern auch induktiv ist, soll heißen, seine Opfer auf allen Seiten fordert.“ (S. 111).
Willkommen in der moralisch erpressten Noch(?)-Republik. Des Autors Worte sprechen für sich.

„Vor die Wahl gestellt, den bösen Sarrazin zu geben oder den guten, entschied Thilo Sarrazin sich für ein Dasein als Sarrazin. Seither steht er jenseits von Gut und Böse. Das sagt alles über seine Verfolger, die partout Anti-Sarrazin sein wollen und dabei all das vorbringen, was er gerade widerlegt hat. Das ist nicht verwunderlich, weil Sarrazin nichts behauptete, was nicht alle Welt weiß. Er unterlegt es nur mit Statistiken. Dafür erntet er Empörung, die seinem Treiben zusteht, vor allem die seiner Partei, deren Menschenbild er so geradlinig vertritt, dass sie ihn unbedingt loswerden will, ohne dass es ihr gelingt. Sollte sie ihn eines Tages abschütteln, dann hätte sie sich selbst abgeschüttelt und endlich frei. Leider hat Sarrazin auch diesen Fall bereits durchgerechnet und präsentiert seine Kosten vorab.“ (S. 160).

Wie recht Ulrich Schödlbauer doch hat. Die SPD hat sich im letzten Jahrzehnt selbst entleibt. Die inneren ausgleichenden, auf Kreativität und Chancengleichheit setzenden Werte sind entwichen. Übrig blieb eine Floskelhülle, die zu allem passt, nur nicht zu den auch durch die SPD geschaffenen Problemen der eigenen (Wahl-)Bevölkerung. Die SPD verlor mit der Trennung von Sarrazin, nicht Sarrazin verlor mit dem längst leichten Verlust seiner Parteimitgliedschaft. Ulrich Schödlbauer brilliert auch in diesem Kapitel so argumentativ wie sprachlich.

„Warum bin ich Demokrat? Eine Sache der Geburt? Eher nicht. Von Geburt ist jeder Mensch Autokrat. Er will beherrscht werden oder herrschen. Gleichbehandlung? Ein Muss, solange er davon profitiert. … Ein Demokrat – wer ist das? Ein Anhänger der Demokratie? Was ist das: Demokratie? … Ein Demokrat, wer ist das? Einer der zufällig in einer Demokratie lebt? Einer, der in einer Demokratie leben will? Einer, der persönliche Anstrengungen unternimmt, um in einer Demokratie zu leben? Einer, der für Demokratie eintritt? Im eigenen Land? In fremden Ländern? Mit welchen Mitteln? Einer, der die Auffassung vertritt, er sei das Volk und sein Wille müsse geschehen?“ (S. 297).

Der Autor weist auf die Konstruktion und ihre Fallen deutlich hin. Das Nachdenken über die Grenzen der Welt soll nicht seine alleinige Sache sein. Er fordert auf zum Diskurs. Ohne Diskurs ist Klärung nicht möglich.

Ich empfehle »Die Grenzen der Welt« auch des intellektuellen Genusses wegen und schließe mit seinem Klappentext:
„Es ist nicht nötig, dass Macht aggressiv auftritt und in Soldatenstiefeln und Uniformen auftrumpft: Jede faktische Konstellation enthält genügend Anreize, sich so und nicht anders in Szene zu setzen, und keine, der ihr das Wort führt, sollte sicher sein. Dass unter seinen Zuhörern nicht auch solche sitzen, denen die Situation das Wort verbietet oder abschnürt.“

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Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

 

Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de. Dieser Beitrag ist zunächst auf www.weissgerber-freiheit.de erschienen.

Bild: Lightspring/Shutterstok
Text: Gast
 
 
 

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