Spätestens seit dem Konformitätsexperiment von Solomon Asch von 1951 ist bekannt, dass sich der Mensch gerne an der Mehrheit orientiert– und dabei schon mal die eigene Wahrnehmung hintanstellt. Umso wichtiger sind Meinungsumfragen. Genauer gesagt deren Veröffentlichung. Denn wenn die Menschen zum Glauben kommen, eine bestimmte Meinung sei die Mehrheitsmeinung, werden ihr viele andere folgen. Dabei spielt es auch eine Rolle, wie groß die Mehrheit ist. Ob knapp oder überwiegend.
Eine neue Online-Umfrage der Meinungsforschungsfirma Civey beschäftigte sich am Sonntag mit folgender Frage: „Haben Sie Verständnis für die aktuellen Demonstrationen in Leipzig, die sich gegen die Corona-Politik der Bundesregierung richten?“ Das repräsentative Ergebnis: 68,9 Prozent antworten „Nein, auf keinen Fall“. Die Antwort „Ja, auf jeden Fall“ kommt nur 19,4 Prozent über die Lippen. Stand: 9. November, 1.30 Uhr. Eine ganz klare Mehrheit und sicher für viele Anlass, zur Mehrheitsmeinung zu neigen. Denn wer ist schon gerne bei einer eindeutigen Minderheit (abgesehen von Situationen, in denen diese besonders gefördert werden). Eingebettet ist die Umfrage auf der Seite von Focus Online. Der gehört zum Burda Verlag, für den der Ehemann von Gesundheitsminister Jens Spahn die Berliner Repräsentanz leitet. Focus Online liest sich seit vielen Monaten wie die „Corona-Schauer-Nachrichten“.
Sieht man nun auf der Civey-Umfrage im Kleingedruckten nach den Rohdaten, also danach, wie viele Menschen wirklich wie abgestimmt haben, bevor die „Wertung“ das Ergebnis zurechtrückte, kommen ganz andere Zahlen heraus. „Nein, auf keinen Fall“ für die Proteste haben dort nicht mehr 68,9 Prozent geantwortet, sondern nur noch 51,8. Die Antwort „Ja, auf jeden Fall“ ist nicht mehr eine kleine Minderheitsmeinung mit 19,4 Prozent, wie im „repräsentativen“ Ergebnis, sondern 37 Prozent der Befragten sehen das so. Bei dieser Verteilung entsteht kaum ein „Konformitätsdruck“. Wer Verständnis für die Proteste hat, muss sich hier nicht als Vertreter einer Minderheit fühlen.
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass hier die Umfragezahlen derart „gewertet“ werden. Zumal ja nur Alter, Geschlecht und Wohnort der Befragten erfasst werden. Bei den Rohdaten ist eine Teilnehmerzahl von 25.090 angegeben – „seit dem Start der Umfrage am 8.11.20″. Repräsentativ sind es – für den Zeitraum vom 8.11.2020 bis 8.11.2020 (!) nur 5040. Diese werden beim Anklicken als „Stichprobengröße“ angegeben.
Das Unternehmen erläutert das wie folgt:
„Wie werden aus Rohdaten repräsentative Ergebnisse?
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Im Umfrage-Tool steht unter „Stichprobengröße“ und „Befragungszeit“, wieviele Teilnehmer und aus welchem Zeitraum ausgewählt wurden, um die repräsentativen Ergebnisse zu berechnen.
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Diese Stichprobe wird dann durch hochwertige statistische Methoden in repräsentative Ergebnisse umgerechnet. Hier erfahren Sie, wie das genau funktioniert.
Das kann man glauben. Oder auch nicht. Der Link, wo man erfahren soll, wie es genau funktioniert, führt nur zu einer Suchseite. Auf der man dann aber mit etwas Nachsehen fündig wird. Im Erklärtext heißt es dann unter anderem, wenn aus einer bestimmten Region zu viele Menschen abstimmen oder zu viele Männer oder Frauen, werde entsprechend „gewichtet“. Das lässt natürlich sehr viel Spielraum.
Die Wertung sei eine normale Sache, sagen die einen. Aber man könnte entgegnen: „Civey“ ist schon zuvor mit merkwürdigen Zahlen aufgefallen. Und auch dadurch, dass die Wertung regelmäßig so ausfällt, wie es für die Regierenden bequem ist. Das Start-up wurde über die stadteigene Investitionsbank Berlin mit einem Startkapital in Höhe von 1,7 Millionen Euro sowie Mitteln des EU-Fonds für Regionalentwicklung in ungenannter Höhe von Gerrit Richter, einem früheren Mitarbeiter des SPD-Finanzministers Hans Eichel, gegründet und wird von ihm bis heute geleitet, wie Tomas Spahn auf TE schrieb: „Auch andere Mitstreiter mit SPD-Nähe finden sich bei Civey: So wird Autorin Kathy Meßmer als frühere Beraterin des SPD-Parteivorstandes und der Parteilinken Gesine Schwan ausgewiesen, den Beirat des Unternehmens leitet die ehemalige SPD-Bundesministerin Brigitte Zypries.“
Civey teilt im Gegensatz zur etablierten Konkurrenz jedem Teilnehmer einer Umfrage sofort den aktuellen Ergebniszwischenstand mit. Und dabei kann man sowohl die Rohdaten als auch die als „repräsentativ“ ausgewiesenen Zahlen ansehen. Wobei man zuerst immer die letzteren gezeigt bekommt – und nur über das Kleingedruckte und bei sehr, sehr genauem Hinsehen auf die Rohdaten kommt, was wohl nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Leser tut.
Schon bei einer Merkel-Umfrage von Civey waren die Unterschiede zwischen den Rohdaten und den „repräsentativen“ Ergebnissen bemerkenswert:
Bei einer weiteren Merkel-Umfrage gab es sogar Phantom-Befragte, wie reitschuster.de aufklärte:
Vor diesem Hintergrund muss man sich die Frage stellen: Sollen hier mit Meinungsumfragen die Stimmungen in der Bevölkerung gemessen werden? Oder sollen im Gegenteil mit ihnen Stimmungen geschürt werden?
PS: Siehe hierzu auch die Ergebnisse von einigen von mir in Auftrag gegebenen INSA-Umfragen, die kolossal Umfragen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens widersprechen:
Text: red