Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger
Manche Begriffe verändern im Lauf der Zeit ihre Bedeutung. So hatte man beispielsweise vor nicht allzu langer Zeit eine recht klare Vorstellung, was wohl mit dem Begriff „Geschlecht“ eines Menschen gemeint sei – es handelte sich um ein Attribut mit in aller Regel zwei möglichen Werten, „männlich“ und „weiblich“, und welche der beiden Ausprägungen im Einzelfall zutreffen sollte, war eine Frage biologischer Merkmale, die auf vergleichsweise einfache Weise festgestellt werden konnten. Das hat sich ein wenig geändert, denn inzwischen geht man in Kreisen, die sich für ausgesprochen fortschrittlich halten, davon aus, dass Dutzende von Geschlechtern die Welt bevölkern, wobei je nach Art des fortschrittlichen Denkens das Geschlecht entweder ein soziales Konstrukt und damit gesellschaftsbedingt sei oder aber jeder und jede und jedes Einzelne das Geschlecht frei wählen könne, je nach dem jeweils vorherrschenden Selbstgefühl; manchmal versucht man auch, beide Standpunkte miteinander zu verbinden. Die Zeiten ändern sich.
Doch nicht nur der Geschlechtsbegriff unterliegt Wandlungen, auch der Begriff der Impfung musste in neuester Zeit Änderungen über sich ergehen lassen. Das ehrwürdige Paul-Ehrlich-Institut, zuständig für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, war noch bis Mitte August der Ansicht: „COVID-19-Impfstoffe schützen vor Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus.“ Das ist eine klare Aussage, die im Übrigen auch dem entspricht, was man sich üblicherweise unter einem Impfstoff vorstellt. Aber Begriffe wandeln sich eben, und so konnte man bereits in der ersten Septemberwoche eine leichte Begriffsverschiebung feststellen: „COVID-19-Impfstoffe schützen vor einem schweren Verlauf einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus.“ Das ist schon etwas schwächer, man schien nicht mehr der Auffassung zu folgen, dass ein Schutz vor Infektionen an sich vorliegt, sondern nur noch schwere Verläufe mehr oder weniger verhindert werden können. Doch auch diese Haltung konnte sich nicht lange behaupten, denn bereits drei Wochen später, Ende September, hieß es dann: „COVID-19-Impfstoffe sind indiziert zur aktiven Immunisierung zur Vorbeugung der durch das SARS-CoV-2-Virus verursachten COVID-19-Erkrankung.“ Eine schöne Aussage, die in ihrer nichtssagenden Vornehmheit fast schon an Jürgen Habermas erinnert. Folgt man der Definition des Medizinhistorikers Urban Wiesing, so handelt es sich bei einer medizinischen Indikation um „ein fachliches Urteil im Einzelfall, initiiert durch den (mutmaßlichen) Willen des Patienten, normiert durch die ethischen Prinzipien ›nutzen‹ und ›nicht schaden‹ und basierend auf vergleichenden Prognosen zwischen dem unbehandelten Verlauf eines Leidens und der Wirksamkeit von Interventionen. Sie ist eine Empfehlung an den Patienten und eine professionsbedingte Selbstnormierung des Arztes.“ Man kann die bekannten und beliebten Impfstoffe also den Patienten empfehlen, sofern klar ist, dass sie mehr nutzen als schaden, aber auch in diesem Fall geht es nur darum, dass sie etwas zur „aktiven Immunisierung zur Vorbeugung der … Erkrankung“ beitragen. Eine deutliche Schutzempfehlung sieht anders aus.
Nun ist das Paul-Ehrlich-Institut nicht unfehlbar, und auch wenn man dort die Aussagen über die Schutzwirkung von COVID-19-Impfstoffen innerhalb von nur sechs Wochen bis fast zur Unkenntlichkeit verwässert hat, beweist das nicht, dass eine solche Schutzwirkung nicht existiert. Es beweist nur, dass man den Wirkungen nicht mehr wirklich vertraut und sich ein wenig absichern möchte. Was aber die Schutzwirkung selbst betrifft, so sind zwei verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: Eine Impfung kann, wenn sie denn überhaupt schützt, den Geimpften selbst schützen oder seine Umgebung, vielleicht auch beides. Aus einer anderen Perspektive gesehen, kann unter Umständen ein Ungeimpfter sich selbst gefährden oder eben seine Umgebung, also andere Menschen. Beide Gefährdungsarten muss man deutlich unterscheiden; beginnen wir also mit der Selbstgefährdung.
Es soll Leute geben, die nicht nur den Tag mit einer Zigarette beginnen und beenden, sondern zwischen Sonnenaufgang und -untergang eine beträchtliche Menge an Zigaretten konsumieren. Dann kann es vorkommen, dass sie eines Tages an letztlich selbstverursachtem Lungenkrebs leiden und die Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen müssen. Sie sind nicht die Einzigen, selbstverursachte Gesundheitsrisiken gibt es viele. Ob es sich um massives Übergewicht aufgrund selbstgewählter Essgewohnheiten handelt oder um die Folgen ebenfalls selbstbestimmter Trinksitten, ob jemand dazu neigt, täglich zu seiner persönlichen Freude Häuserfassaden hinaufzuklettern oder sich häufig auf Parteiversammlungen der Grünen sehen zu lassen – sie alle gefährden freiwillig und aus eigenem Entschluss ihre Gesundheit, wobei es sich im letzteren Fall eher um psychische als um physische Risiken handelt. Und niemand, schon gar nicht der Staat, hat das Recht, ihnen ihre Entscheidungen abzunehmen, indem er sie vom Rauchen, Essen, Trinken, Klettern, Versammeln abhält: Das nennt man Freiheit. Sie alle gefährden niemanden außer sich selbst, und das dürfen sie. Keiner, auch nicht der Staat in Form des staatlichen Gesundheitssystems, ist berechtigt, ihnen den Zugang zu den Leistungen dieses Gesundheitssystems zu verwehren, was in all diesen Fällen bisher auch noch niemand ernsthaft versucht hat. Nur bei einer sehr speziellen Gefährdung soll das auf einmal anders sein: Wer sich nicht mit einem der – bedingt zugelassenen und experimentellen – COVID-19-Impfstoffe traktieren lassen will, der soll nach der Auffassung mancher Ethiker oder gar Politiker diskriminiert werden, indem er der Teilhabe am allgemeinen Gesundheitssystem beraubt wird. Alle anderen selbstgemachten Risiken stören keinen, nur bei diesem einen Risiko glaubt man, die Unwilligen vor sich selbst schützen zu müssen.
Dieser vorbeugende Schutz der Menschen vor sich selbst ist nicht sehr weit entfernt vom Prinzip der Schutzhaft. Wer das einführen will, soll es deutlich sagen, muss aber auch die Konsequenzen tragen. Sollte es etwa rauchende, übermäßig essende oder trinkende, vielleicht sogar an Fassaden kletternde Ethiker oder Politiker geben, denen ihre Gewohnheiten einen Klinikaufenthalt bescheren? Dann darf man schon heute zur persönlichen Übernahme sämtlicher Behandlungskosten oder gar zur erwartbaren Ablehnung der Behandlung durch die Klinik gratulieren: Das Leiden war ja selbstverschuldet! Und sicher gibt es in den genannten Kreisen hinreichend viele, die sich gegen COVID-19 haben impfen lassen, was – man kann es gar nicht oft genug betonen – ihre eigene legitime Entscheidung ist, die jeder genauso zu akzeptieren hat wie den gegenteiligen Entschluss. Sollte es dann aber mit etwas Pech zu Impfschäden kommen, so sind auch diese gesundheitlichen Probleme selbst verschuldet, da sie nicht zur Impfung gezwungen wurden und ohne Frage auch immer darauf bestehen würden, sich selbst bewusst für eine Impfung entschieden zu haben. Wenn aber die negativen Folgen einer Nicht-Impfung mit Ausschluss vom Gesundheitssystem bestraft werden sollen, dann selbstverständlich auch die negativen Folgen einer Impfung – es gilt gleiches Recht für alle freien Entscheidungen über den eigenen Gesundheitszustand.
Kurz gesagt: Eine Entscheidung gegen eine COVID-19-Impfung mag eine Form der Selbstgefährdung sein, aber sie ist dann nur eine Form unter vielen, und auch die Entscheidung für die Impfung kann zur Selbstgefährdung werden. Will man nicht alle Selbstgefährder in der Bevölkerung mit Sanktionen belegen – und auf die eine oder andere Art dürften fast alle zu dieser Gruppe gehören –, dann hat sich der Staat auch für diese spezielle Form so wenig zu interessieren wie für alle anderen und insbesondere einen Ausschluss vom Gesundheitssystem nicht einmal von ferne zu erwägen.
Mit der Frage, ob sich ein Umgeimpfter vielleicht selbst gefährdet, hat der Staat also nichts zu tun, sofern es sich um einen einigermaßen freiheitlichen Staat ohne totalitäre Tendenzen handelt. Selbstverständlich ist das bei dem Problem der Fremdgefährdung nicht der Fall; es kann vorkommen, dass ein Staat Maßnahmen ergreifen muss, um eine Gefährdung der Bevölkerung weitgehend auszuschließen. Dass staatliche und vor allem politische Stellen reale Gefährdungen gerne übersehen, weil sie ihnen nicht ins ideologische Konzept passen – man denke nur an die Situation in so manchem Berliner Bezirk –, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Wie sieht es nun mit der Gefährdung durch hartnäckig Ungeimpfte aus? Zwei Aspekte sind hier zu unterscheiden.
Zunächst könnten Ungeimpfte, eben weil sie ungeimpft und daher besonders gefährdet sind, zur Überlastung der Krankenhäuser, insbesondere der Intensivstationen führen. Das wurde auch oft behauptet, aber nie wirklich belegt, und der Bericht des Bundesrechnungshofes vom Juni 2021 zeigt, dass das insgesamt betrachtet nie der Fall war; auch im Bundesgesundheitsministerium selbst hat man das zur Kenntnis genommen. Zeitweilige Überlastungen in einzelnen Stationen kamen vor, aber die hat es dank einer eher ungünstigen deutschen Gesundheitspolitik auch schon früher gegeben. Diese Art der Fremdgefährdung lag also schon in der Vor-Impf-Zeit nie vor, und sollten die propagierten Impfstoffe eine ernstzunehmende positive Wirkung aufweisen, dann muss man heute bei einer Impfquote von deutlich über 60 % auch nicht mehr damit rechnen.
Das ist aber nicht alles. Immerhin könnten Ungeimpfte schon durch ihre bloße Existenz die Mitmenschen gefährden, indem sie durch die Gegend laufen, nicht nur ein-, sondern auch ausatmen, Viren verbreiten und somit andere anstecken. Das kann man zunächst nicht ausschließen, und auf dieser Vorstellung beruhen alle Regelungen, die auf eine klare Diskriminierung Ungeimpfter hinauslaufen, egal mit welchen seltsamen Abkürzungen man die Regeln versieht.
Um sich diesem Problem etwas anzunähern, können wie so oft einige Daten nicht schaden. Dabei muss man sich nur noch auf den Zusammenhang zwischen aufgetretenen COVID-Fällen und den jeweiligen Impfquoten beschränken; die Frage, wie viele Hospitalisierte oder gar Tote geimpft oder ungeimpft waren, gehört, wie oben gezeigt, zum Problemkreis des persönlichen Risikos, in das der Staat sich nicht einzumischen hat, und nicht zu dem der Fremdgefährdung.
Nur ungern verlässt man sich auf die Daten des RKI, das schon im Zusammenhang mit Zählweisen und Impfquoten seine überschaubare Zuverlässigkeit und Gründlichkeit unter Beweis gestellt hat. Stattdessen schadet es nichts, einen Blick auf die britischen Daten der UK Health Security Agency zu werfen. Im dortigen Impf-Überwachungs-Report vom 30. September findet man die folgende Graphik, in der, aufgeteilt nach Altersstufen, die Impfabdeckung eingetragen ist.
Dabei handelt es sich jeweils um die Quote der vollständig Geimpften. Zusätzlich wird eine Tabelle zur Impfeffektivität zur Verfügung gestellt.
Pro Altersstufe wird hier die Gesamtzahl der Fälle, wie üblich gemessen an Laborergebnissen, in den Kalenderwochen 35 bis 38 angegeben, aufgeteilt nach dem jeweiligen Impfstatus. Spätestens auf den zweiten Blick ist zu sehen, dass man auch in Großbritannien das Publikum nicht durch allzu viel Transparenz belasten möchte. Die Impfquoten wurden nur graphisch angegeben, was die Ermittlung exakter Werte nicht gerade vereinfacht; es wäre ein Leichtes gewesen, auch die konkreten Zahlenwerte in eine Tabelle zu fassen. Und die Aufteilung der Altersklassen in der Tabelle ist eine andere als in der Graphik, sodass aus jeweils zwei Kurven eine kumulative Impfquote ermittelt werden muss. Man muss mit dem zurechtkommen, was geboten wird.
Verglichen werden sollen nun die Fallzahlen in der Klasse der Ungeimpften, also der besonders Renitenten und völlig Ungeschützten, mit denen in der Klasse der vollständig Geimpften, also der besonders gut Geschützten, nach Auffassung des Paul-Ehrlich-Instituts bis Mitte August sogar „vor Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus“ Geschützten. Ein Blick in die letzte Zeile der obigen Tabelle zeigt Erschreckendes: 9.765 geimpfte Fälle gab es in der Klasse der mindestens Achtzigjährigen, denen nur 446 ungeimpfte Fälle gegenüberstehen, zunächst ein unglaublich schlechtes Verhältnis. Sagt das etwas aus? Nein. Man muss in Rechnung stellen, dass es in dieser Altersklasse eine ausgesprochen hohe Impfquote gibt, und je höher die Impfquote, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch Geimpfte unter den registrierten Fällen befinden. Dem könnte man entgegenhalten, dass unabhängig von der Impfquote doch die Geimpften unter den Fällen gar nicht mehr oder doch wenigstens in verschwindend geringer Zahl auftauchen sollten, wenn denn die Impfung so Großes leistet – genau dieser Einwand dürfte es gewesen sein, der das Paul-Ehrlich-Institut im September zu seiner terminologischen Wende bewogen hat.
Wie man nun die nötige Berücksichtigung der Impfquote vornehmen kann, werde ich an einem fiktiven Beispiel zeigen. Wir gehen aus von einer Population von 10.000 Menschen, von denen 60 % geimpft sind, 40 % aber nicht, sodass man es also mit 6.000 Geimpften und 4.000 Ungeimpften zu tun hat. Die gesamte Anzahl der „Fälle“ in diesem fiktiven Beispiel beträgt 1.000, 800 davon geimpft, 200 ungeimpft. Da die Anzahl der Geimpften ungleich ist der Anzahl der Ungeimpften, ist es sinnlos, die Fallzahlen direkt miteinander zu vergleichen. Wenn sich nun aber die Quote der Ungeimpften und die Quote der Geimpften die Waage hielten, dann würde auch ein Vergleich der Fallzahlen etwas aussagen. Diese Situation lässt sich leicht herstellen. Hätte man nur 5.000 Geimpfte statt 6.000, dann wären das gerade fünf Sechstel der angenommenen Zahl, weshalb man auch von nur noch fünf Sechsteln der Fälle ausgehen sollte. Das sind dann 5/6 * 800 = 667, wenn man auf ganze Zahlen rundet. 5.000 Ungeimpfte dagegen wären etwas mehr als die angenommenen 4.000, der Faktor liegt bei fünf Vierteln. Daher hat man in einer Klasse von 5.000 Ungeimpften nicht mehr 200 Fälle zu erwarten, sondern eben 5/4 * 200 = 250. Jetzt erst haben alle die gleiche Chance, und die beiden Werte 667 und 250 können als realistische Vergleichszahlen betrachtet werden. Bei Umfangsgleichheit der Klassen müsste man also mit insgesamt 917 Fällen rechnen, 667 davon geimpft, das sind 72,7 %, und 250 ungeimpft, das sind 27,3 %. Hat man demnach in unserem fiktiven Beispiel genauso viele Geimpfte wie Ungeimpfte, so wird sich die Gesamtzahl der Fälle aufteilen in 72,7 % Geimpfte und 27,3 % Ungeimpfte.
Nun kann man auch die neuerdings so beliebte relative Risikoreduktion ausrechnen, die man vermutlich am einfachsten beim Einsatz absoluter Zahlen verstehen kann. Bei 1.000 Fällen hätte man 727 Geimpfte und 273 Ungeimpfte zu vermelden. Der Abstand zwischen geimpften und ungeimpften Fällen beläuft sich auf 727 – 273 = 454, das sind 62,4 % von 727, und genau diesen Wert bezeichnet man als die relative Risikoreduktion, denn in unserem fiktiven Beispiel ist die Zahl der ungeimpften Fälle um 62,4 % niedriger als die Zahl der geimpften.
Diese umständliche Prozedur muss nicht jedesmal neu durchgeführt werden. Man kann sie einmal auf abstrakte Weise erledigen und findet so eine einfache Formel, mit der sich die bereinigten Prozentsätze der Fälle – also im Beispiel 72,7 % und 27,3 % – und die relative Risikoreduktion direkt ausrechnen lassen. Dazu muss man die folgenden Werte kennen: den Anteil der vollständig geimpften Fälle (fg) und den Anteil der ungeimpften Fälle (fu) an der Gesamtsumme aus vollständig geimpften und ungeimpften Fällen, die Quote der Geimpften (qg) und die daraus leicht berechenbare Quote der Ungeimpften (qu). Mit den Bezeichnungen bg für den bereinigten Anteil der Geimpften unter den Fällen und bu für den entsprechenen Anteil der Ungeimpften führt eine leichte Rechnung zu den Formeln:
Wie schon erwähnt, bereitet hier die jeweilige Impfquote leichte Probleme, da die in den Tabellen aufgeführten Altersklassen in der Impfgraphik in zwei Teilklassen mit zwei Quoten aufgeteilt sind, die man erst ablesen und dann zu einem Wert zusammenfassen muss. Das ist hier durch Mittelwertbildung geschehen. Der „Anteil geimpft“ wird beispielsweise für die Klasse „Über 80“ durch die schlichte Division 9765 / (9765 + 446) = 0,9563 berechnet, der „Anteil ungeimpft“ auf die entsprechende Weise.
Die relative Risikoreduktion, abgekürzt als RRR, findet man dann wie im obigen Beispiel nach der Formel RRR = (bg – bu) / bg . Um jedes Missverständnis auszuschließen, sollte noch einmal erwähnt werden, dass „geimpft“ hier für „vollständig geimpft“ steht.
Die Ergebnisse sprechen für sich. In allen Altersklassen ab 30 Jahren liegt der bereinigte Anteil der geimpften Fälle über dem der ungeimpften Fälle, teilweise sogar deutlich. Die relative Risikoreduktion bezieht sich auf die Reduktion des Risikos von Ungeimpften im Vergleich zu Geimpften, zu einem positiven Fall zu werden. Man hat also beispielsweise in der Klasse der mindestens Achtzigjährigen als Ungeimpfter ein um 28 % vermindertes Risiko, in die Riege der Infizierten aufgenommen zu werden als der Geimpfte. Erst in der Altersklasse von 30 bis 39 Jahren reduziert sich der deutliche Abstand, um dann in der Klasse von 18 bis 29 Jahren zu einem, wenn auch geringen, negativen Wert umzuschlagen. Natürlich sind diese Werte mit Ungenauigkeiten behaftet, da die Graphik der Impfquoten keine genauen Werte hergibt, aber auch wenn man mit leicht abweichenden Impfquoten rechnet, ändert das nichts am Effekt.
Die britischen Daten zeigen somit, dass es nicht den geringsten Grund gibt, Menschen ab einem Alter von 30 Jahren in irgendeiner Weise wegen ihres Impfstatus zu diskriminieren, denn die Ungeimpften dieser Gruppe tragen zum Infektionsgeschehen weniger bei als die Geimpften. Warum sie also ausschließen und die Geimpften bevorzugen, obwohl die Daten nichts dergleichen nahelegen?
In der Klasse der 18- bis 29-Jährigen ergibt sich ein relativer Nachteil der Ungeimpften von etwa 17 %. Ist das ein Grund, sie vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen? Sicher nicht, denn mit Ausnahme von Politikern und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kann inzwischen jeder Interessierte wissen, dass junge Menschen zwar wie jeder andere mit dem SARS-CoV-2-Virus in Berührung kommen können, aber in aller Regel deshalb nicht erkranken, weil sie eine zu geringe Viruslast mit sich tragen und somit auch nicht infektiös sind. Zudem ist bei einem derart geringen Nachteil noch das Problem der Nebenwirkungen aufzuwerfen, das bisher noch nicht thematisiert wurde: Junge Leute tragen ein erhöhtes Risiko für eine der ernsthaften Impfnebenwirkungen wie beispielsweise Myokarditis. Nach dem anfänglich zitierten Prinzip, zu nutzen und nicht zu schaden, ist ein derart geringer relativer Nachteil kein Grund, Menschen unter 30 Jahren mit einer Impfung zu belasten. Das Gleiche gilt für die Klasse der Minderjährigen. Man kann hier keine vernünftige Berechnung durchführen, da die Impfquoten der verschiedenen Teilklassen zu sehr differieren, wie der Graphik zu entnehmen ist, und da man nicht feststellen kann, in welcher der Teilklassen die positiven Fälle aufzufinden sind. Es spielt aber in Wahrheit keine Rolle, da die eben genannten Argumente erst recht für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren gelten.
Glücklicherweise liegt inzwischen auch der Report vom 7. Oktober vor, und man kann nachsehen, ob sich die Tendenzen des vorherigen Reports bestätigen. Graphik und Tabelle sind genauso aufgebaut wie schon oben beschrieben.
Bei den Impfquoten hat sich nicht viel geändert, es ist die eine oder andere moderate Steigerung zu verzeichnen.
Die Tabelle der Fälle für die 36. bis zur 39. Kalenderwoche muss wegen des ungeänderten Aufbaus nicht weiter kommentiert werden. Die beschriebenen Rechnungen führen dann zu den folgenden Ergebnissen.
Wie man sieht, haben sich die Verhältnisse in den Altersklassen ab 30 Jahren zu Ungunsten der Geimpften verschoben, die relative Risikoreduktion der Ungeimpften hat sich im neuen Bericht erhöht. Nur in der Klasse der jungen Menschen ergibt sich eine andere Tendenz, die aber aus den beschriebenen Gründen auch hier keine Bedeutung hat.
Im Hinblick auf die Frage, ob jemand als infiziert gilt, ergibt sich aus den britischen Daten ein deutliches Bild: Geimpfte über 30 haben ein etwas höheres Risiko als Ungeimpfte, in die Riege der Positiven aufgenommen zu werden, bei Jüngeren ist die Lage anders, aber aus den beschriebenen Gründen irrelevant. Das entspricht einer kürzlich erschienenen Studie, in der nicht nur für Großbritannien, sondern für 68 verschiedene Länder gezeigt wurde, dass es keine nennenswerte Beziehung zwischen der Quote der vollständig Geimpften und der Anzahl neuer COVID-19-Fälle gibt. Tatsächlich scheinen nach dieser Untersuchung sogar Länder mit hohen Impfquoten tendenziell höhere Fallzahlen, natürlich umgerechnet auf die Einwohnerzahl, aufzuweisen.
Sollte das Folgen für die noch immer vorherrschenden Maßnahmen haben, die kein Ende finden wollen? Mit Sicherheit. Das persönliche Risiko des Einzelnen geht den Staat nichts an, solange das Eingehen dieses Risikos nicht zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führt – und das ist nach allem, was bekannt wurde, keineswegs der Fall. Die Fremdgefährdung durch Ungeimpfte aufgrund ihrer Infektiosität ist nicht höher als die durch Geimpfte, zumal die Viruslast infizierter Geimpfter nicht geringer sein dürfte als die Ungeimpfter. Für das erste G der beliebten 3G-Regel, für die Bevorzugung Geimpfter gegenüber Ungeimpften kann also kein Grund angegeben werden. Das gilt aber auch für das dritte G, für die Getesteten, denn Schnelltests und PCR-Tests sind für die Feststellung der aktuellen Infektiosität völlig ungeeignet, sodass ein negativer Test nichts über das Potential zur Fremdgefährdung aussagt. Das zweite G betrifft die Genesenen. Selbst wenn man annimmt, dass sie nichts mehr zur Virusverbreitung beitragen können, wäre ihre Bevorzugung völlig sinnlos: In Deutschland gibt es derzeit etwa vier Millionen Träger des Genesenen-Status. Soll man ihnen und nur ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gestatten, die man den restlichen 79 Millionen konsequenterweise verweigern müsste? Der Gedanke ist so absurd wie kontraproduktiv, auf diese Weise vernichtet man eine Gesellschaft, anstatt sie zu schützen.
Es gibt daher nur eine mögliche Reaktion: Jede Form von 3G-, 2G- oder 1G-Regel muss sofort im Giftschrank der Geschichte verschwinden. Stattdessen schwadroniert der unvermeidliche Karl Lyssenko Lauterbach wieder einmal über eine Verschärfung der Corona-Regeln. Noch immer kursieren Gerüchte über seine eventuelle Berufung zum nächsten Bundesgesundheitsminister. Tiefer könnte eine Regierung nicht mehr sinken.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Text: Gast