Sehen Sie hier mein Video mit den beschriebenen Szenen und meinen Kommentaren.
Der Journalismus sollte den Menschen auf den Mund schauen – aber nicht nach dem Mund reden. Er sollte Stimmungen und auch Ängste wiedergeben – ohne dabei Panik zu verbreiten. So habe ich das gelernt. Gestern habe ich einen Leser getroffen, der sich bitter beklagte, seine Tochter, 16 Jahre und ungeimpft, fühle sich in ihrer Schule wie eine Aussätzige. Heute berichteten mir weitere Leser, dass sie bzw. ihre Kinder sich genauso fühlten (Details unten). Deshalb war ich überaus verwundert, als mir der Sprecher von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, Hanno Kautz, auf eine Frage, bei der mir aus internen Gründen leider ein dummer Fehler mit den Zahlen unterlaufen ist (auch dazu mehr unten), antwortete, es gebe „keine drastischen Einschränkungen“ (wobei hier wiederum ihm ein Formulierungsfehler unterlaufen ist). Der Regierung ist offenbar auch nichts von 2G und 1G bekannt – meine Aussage, dass Leser mir klagten, sie könnte ohne Impfung nicht in Restaurants, wurde als Unwahrheit abgetan. Wie weit ist diese Regierung von der Realität im Land entfernt?
Aber all das war nur das Vorspiel zu einem Wortwechsel, der mir die Sprache verschlug. Nachdem ich gerade das Treffen mit dem Leser hatte und die vielen Zuschriften bekam mit den Klagen über Ausgrenzung, konnte ich die Aussage, es gebe „keine drastischen Einschränkungen“, nicht so stehen lassen. Und sprach das an, worüber Leser sich beklagen – dass sie sich als Ungeimpfte wie Aussätzige fühlen. Das brachte mir wiederum den Vorwurf von Seibert ein, ich vergifte das Klima: „Als Aussätziger wird niemand behandelt. Das einfach so als Begriff in den Raum zu stellen, ist meiner Meinung nach ein Beitrag zu einem wirklich schlechten Klima.“ Ich entgegnete: „Nein. Es ist Aufgabe der Presse, das zu transportieren, was Leute fühlen.“ Darauf Seibert: „Nachdem Sie sie auch entsprechend journalistisch beliefert haben.“
Ich fasste die Aussage des Regierungssprechers spontan im Saal so auf, dass er damit meint, ich würde die Menschen falsch journalistisch beliefern. Man könnte sie aber auch anders interpretieren: Dass man die Gefühle der Menschen erst dann als Journalist ausdrücken darf, nachdem man sie „entsprechend journalistisch beliefert“ hat.
So oder so – Fakt ist, die Regierung bzw. ihr Sprecher offenbaren hier ein Verständnis von Journalismus, das diametral dem entgegen läuft, was ich für die Grundlage unserer Arbeit halte. So eine Einstellung erinnert an Kriegszeiten, in denen Journalisten Maulkörbe bekommen. Im schlimmsten Fall kann so eine Einstellung in letzter Konsequenz zu Vorwürfen führen, die in die Richtung „Wehrkraftzersetzung“ gehen. Insofern bin ich Herrn Seibert auf eine gewisse Art sogar dankbar, dass er hier aus der Reserve geriet und ganz offen darstellte, was diese Regierung für ein Bild von der Aufgabe der Medien hat.
Ich verspreche Ihnen – ich bleibe bei meiner Auffassung und werde auch künftig Stimmungen, Ängste und Besorgnisse meiner Leser wiedergeben und sie nicht dahingehend „entsprechend journalistisch beliefern“, dass ich ihnen diese nehme. Das ist nicht meine Aufgabe und verbietet sich. Genauso wie das Schüren von Ängsten. Geschürt wird das in meinen Augen genau dadurch, wie die Regierung aber derzeit die Menschen informiert, oder besser gesagt nicht informiert, und den Eindruck erweckt, sie vertusche vieles.
Hier mein Video mit den beschriebenen Stellen. Die gesamte Bundespressekonferenz sehen Sie über diesen Link. Unter diesem Artikel finden Sie unten einen Auszug aus dem Wortprotokoll der Bundespressekonferenz.
Zur Erklärung meines Fehlers in der Ursprungsphase des Wortwechsels: Eine junge und sehr talentierte Mitarbeiterin (m/w) hatte einen entsprechenden Artikel geschrieben mit diesen Zahlen. Er war noch im Entwurfsstadium, als ich ihn auf der Bundespressekonferenz las (ich arbeite oft parallel im Multitasking an mehreren Fronten, sonst wäre das Arbeitspensum nicht zu bewältigen). Ich prüfte ihre Angaben, den Link, und fand da tatsächlich die Zahl mit den ausländischen Patienten auf der Seite der Bundesregierung. Die junge Kollegin hatte aber übersehen, dass unter dem Text der Regierung das Datum stand – und vom April 2020 war. Entsprechend waren dann auch ihre Schlussfolgerungen falsch: Der Artikel ist nie erschienen, weil er noch nicht kontrolliert war (alle Beiträge auf meiner Seite werden in der Regel von zwei Korrektoren unabhängig voneinander geprüft). Weil ich den Entwurf in der Bundespressekonferenz gelesen hatte, und auch der Link, also die Quelle, unverdächtig war, habe ich die Zahl in meiner Frage übernommen, und auch den Prozentsatz. Ich bitte die Zuschauer und die Bundesregierung für diesen Fehler um Entschuldigung. Bei dem Arbeitspensum von meinem Team und mir sind wir aber nie vor Fehlern gefeit. Wir können Ihnen nicht versprechen, diese ganz zu vermeiden. Versprechen können wir aber, transparent damit umzugehen und sie ggf. umgehend zu korrigieren.
Bild: Boris Reitschuster/Ekaterina Quehl
Text: br
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REITSCHUSTER: Herr Kautz, in der vergangenen Woche waren 225 ausländische Coronapatienten auf deutschen Intensivstationen. Das sind knapp 10 Prozent der gesamten Patienten. Auch wenn es erfreulich ist, dass man denen helfen will, sagen Kritiker, das würde die Darstellung der Zahl durcheinanderbringen. Die werfen die Frage auf: Wenn die Situation so tragisch, so dramatisch ist, dass man hier so massiv einschränken muss, warum sind diese Kapazitäten noch da? – Was antworten Sie diesen Kritikern?
+++ Anmerkungen: Die Zahl ist falsch und beruht auf einem redaktionsinternen Fehler, den ich zu entschuldigen bitte – unten die Details +++
KAUTZ: Zum einen, Herr Reitschuster, muss ich jetzt diesmal in der Tat sagen, dass ich das nachliefern muss. Die Zahl 225 kann ich nicht bestätigen, weil ich das schlicht und ergreifend nicht weiß. Ich muss schauen, ob diese Zahl stimmt.
Zum anderen zu drastischen Maßnahmen, die wir treffen: Wenn Sie die jetzigen Maßnahmen mit den Maßnahmen im vergangenen Jahr vergleichen, dann ist ziemlich viel wieder möglich, ziemlich sehr viel wieder möglich. Es gibt keine drastischen Einschränkungen der Maßnahmen.
+++ In meinen Augen ein Versprecher von Kautz, einzig Sinn machende Erklärung dafür ist, dass die beiden Wörter „der Maßnahmen“ zu streichen sind“ – sonst macht die Aussage im Kontext keinen Sinn +++
Das ist natürlich auch ein Grund dafür, dass die Zahlen steigen, und die Zahlen steigen bei den Leuten, die ungeimpft sind.
SEIBERT: Im Übrigen, Herr Reitschuster, ändern die Zahlen, die Sie jetzt genannt haben, wenn sie stimmen ich nehme das einmal an, das Bild überhaupt nicht. Wir hatten im Sommer vielleicht 200 Intensivpatienten. Wir haben jetzt, ich kenne die tagesaktuellen Zahlen nicht, 2.300 oder 2.500. Selbst wenn wir 10 Prozent weniger hätten, hätten wir doch die gleiche Dynamik, mit der sich unsere Intensivstationen wieder in sehr bedrohlicher Weise füllen.
REITSCHUSTER: Herr Kautz, Sie haben jetzt gesagt, es gäbe keine dramatischen Maßnahmen. Ich bekomme massiv Zuschriften von Lesern, die sagen, zum Beispiel Kinder fühlten sich wie Aussätzige, weil sie nicht geimpft seien. Sie fühlen sich wie Aussätzige. Sie können nicht mehr ins Restaurant gehen. Die Bundesregierung…
KAUTZ: …das stimmt ja nicht. Vielleicht könnten Sie da aufklären, Herr Reitschuster…
SEIBERT: Die 3G-Regel ermöglicht ja den Besuch im Restaurant ohne Probleme.
KAUTZ: Für Kinder auch.
ZUSATZFRAGE REITSCHUSTER: Welche Regel?
SEIBERT: Die 3G-Regel.
ZUSATZ REITSCHUSTER: Aber es gibt ja schon 2G im großen Teil! – Ich will jetzt nicht ins Detail gehen. Das können wir bilateral klären.
KAUTZ: Das sollten Sie aber, weil Sie in Ihrer Frage eine Unwahrheit behauptet haben, Herr Reitschuster, und das können wir nicht durchgehen lassen.
+++ Hier bezieht sich Kautz eindeutig auf meine Aussage, dass Ungeimpfte (teilweise) nicht mehr ins Restaurant können +++
ZUSATZ REITSCHUSTER: Nein, das war keine Unwahrheit.
KAUTZ: Doch!
ZUSATZ REITSCHUSTER: Das unterstellen Sie mir; nein!
KAUTZ: Doch!
ZURUF REITSCHUSTER: Es gibt auch 2G!
VORS. WELTY: Vielleicht könnten wir zu einem geordneten Verfahren zurückkommen.
ZUSATZFRAGE REITSCHUSTER: Genau. – Die Frage war: Ich habe Sie also richtig verstanden, dass die Bundesregierung davon ausgeht, so haben Sie das gesagt, dass die jetzigen Maßnahmen nicht dramatisch sind. Ja?
KAUTZ: Das habe ich nicht gesagt!
ZURUF REITSCHUSTER: Doch!
+++ Hier noch einmal seine Aussage: „Es gibt keine drastischen Einschränkungen“ +++
KAUTZ: Ich habe das mit dem vergangenen Jahr verglichen.
ZUSATZ REITSCHUSTER: Das ist Semantik.
KAUTZ: Nein!
ZUSATZ REITSCHUSTER: Das ist genau das, was Sie Herrn Jung vorwerfen.
KAUTZ: Das ist der Vergleich.
VORSITZENDE WELTY: Ich wäre wirklich sehr dankbar, wenn wir zu einem Verfahren zurückkämen, das eine Frage und eine Antwort beinhaltet.
REITSCHUSTER: Jetzt wurde aber ich unterbrochen!
SEIBERT: Ich finde, wir sollten vielleicht auch insgesamt zu einer verbalen Abrüstung kommen, und Sie sollten sich vielleicht überlegen, ob Sie Begriffe wie die, dass Menschen hier wie Aussätzige behandelt werden, einfach so weitertransportieren. Niemand wird in Deutschland so behandelt. Es gibt etwa 55 Millionen oder 56 Millionen Menschen, die sich haben impfen lassen, und es gibt eine aus meiner Sicht und aus Sicht der Bundesregierung betrüblich hohe Zahl von Menschen, die sich leider noch nicht haben impfen lassen, obwohl es ihnen persönlich Sicherheit gäbe und es uns insgesamt als Land besser durch die Pandemie brächte. Als Aussätziger wird niemand behandelt. Das einfach so als Begriff in den Raum zu stellen, ist meiner Meinung nach ein Beitrag zu einem wirklich schlechten Klima.
REITSCHUSTER: Nein. Es ist Aufgabe der Presse, das zu transportieren, was Leute fühlen.
SEIBERT: Nachdem Sie sie auch entsprechend journalistisch beliefert haben.
REITSCHUSTER: Also bin ich schuld?
VORSITZENDE WELTY: Ich werde diese Diskussion jetzt nicht weiterführen lassen, und wir kommen zu Herrn Lücking mit einem neuen Thema.