Was für eine Schlappe für die Corona-Politik von Bund und Ländern: Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg hat die 2G-Regel im Einzelhandel in Niedersachsen für gesetzwidrig erklärt. Nur Geimpften oder Genesenen Zutritt zu Geschäften zu gewähren, sei nicht mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz zu vereinbaren, entschieden die Richter. Sie befanden: Die Maßnahme sei zur weiteren Eindämmung des Virus nicht erforderlich. Eine Antragstellerin, die auch in Niedersachsen Einzelhandel im Filialbetrieb mit einem Mischsortiment betreibt, hatte sich mit einem Normenkontrolleilantrag an das Gericht gewandt. „Die Außervollzugsetzung der so genannten 2G-Regelung im Einzelhandel wirkt nicht nur zugunsten der Antragstellerin in diesem Verfahren“, teilte das Gericht mit: „Sie ist vielmehr in ganz Niedersachsen allgemeinverbindlich. Der Beschluss ist unanfechtbar.“ Dasselbe Oberverwaltungsgericht hatte bereits vor knapp einer Woche die 2G-Plus-Regel bei körpernahen Dienstleistungen gekippt. Wer nicht geimpft oder genesen ist, darf demnach beispielsweise nicht vom Besuch im Friseur- oder Kosmetiksalon ausgeschlossen werden.
Seine Entscheidung begründete das Gericht unter anderem damit, dass eine schlichte Übertragung von Forschungserkenntnissen aus geschlossenen Räumen im Bereich von Sport und Freizeit auf den Handel unmöglich sei. Außerdem sei es möglich, Kunden im Einzelhandel zum Tragen einer FFP2-Maske zu verpflichten. Zudem gebe es keine Belege, dass das Land seine Forschung zu Infektionswegen ausgeweitet habe, um damit die Zielgenauigkeit der getroffenen Schutzmaßnahmen zu erhöhen.
2G hatte zu massiver Kritik geführt. Der Handelsverband hatte bemängelt, die Regel könne das Weihnachtsgeschäft in den Innenstädten regelrecht zum Erliegen bringen. Nach der Entscheidung der Richter in Niedersachsen forderte der Hessische Industrie- und Handelskammertag laut „Welt“ ein Ende der Regelung auch in Hessen. „Die Landesregierung sollte 2G auch im hessischen Einzelhandel beenden“, sagte Präsidentin Kirsten Schoder-Steinmüller dem Bericht zufolge am Donnerstag. „Es sollten schnellstmöglich wieder alle Läden uneingeschränkt öffnen dürfen – natürlich mit Abstand, Masken und Hygienekonzept.“
Auch Ärzte kritisieren 2G scharf. „Die Regel ist aus epidemiologischer Sicht sinnlos, um nicht zu sagen, vollkommen unsinnig, denn warum: weil bei 2G nicht mehr getestet wird“, sagte der Epidemiologe und ehemalige Gesundheitsamtschef Friedrich Pürner im Interview mit reitschuster.de: „Wir wissen, dass die Impfung das nicht hält, was ursprünglich versprochen wurde. Wir wissen, dass auch Geimpfte krank werden, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können, und sie sich sogar untereinander, die 2Gs, anstecken können, hauptsächlich die Geimpften. Also verschwinden die 2G unter der Decke, weil sie nicht mehr getestet werden, und können das Virus weiterhin verbreiten. Im Übrigen hat 2G nur den Sinn, dass mehr Druck auf die Ungeimpften ausgeübt werden soll, damit sie sich dann endlich impfen lassen. Das halte ich für verkehrt, denn wir gehen gerade auf eine völlige Impfpflicht zu. Auch die halte ich für absolut unmoralisch und unethisch, weil es für mich keinen fachlichen Grund, keinen wirklichen fachlichen Grund gibt, eine Impfpflicht einzuführen.“
Die heutige Gerichtsentscheidung ist umso bedeutender, als sich bisher die Gerichte mehrheitlich stramm für die staatlichen Maßnahmen aussprachen. Kritiker sprachen bereits von Problemen des Rechtsstaates in Deutschland. Das Lüneburger Gericht zeigt nun, dass zumindest teilweise die Gewaltenteilung noch funktioniert. Anders als das Bundesverfassungsgericht, das Angela Merkel mit einem Vertrauten an der Spitze besetzen ließ, und dessen Richter schon mal zum Abendessen ins Kanzleramt kamen und dort laufende Verfahren besprachen, zeigten die niedersächsischen Richter die Ferne vom Staat, die sich für einen Rechtsstaat gehört. So wenig die Entscheidung die grundlegenden, beunruhigenden Tendenzen bei der Gewaltenteilung aufhebt. Und so groß die Gefahr ist, dass andere, willfährige Gerichte anders entscheiden: Die Lüneburger Richter zeigen, dass der Rechtsstaat zumindest in Teilen noch funktioniert. Das macht zumindest ein wenig Hoffnung.
In einer Pressemitteilung unter der Überschrift „Vorläufige Außervollzugsetzung der 2-G-Regelung im Einzelhandel“ teilt das Gericht mit:
Dem ist der 13. Senat im Wesentlichen gefolgt. Die 2-G-Regelung im Einzelhandel in der konkreten Ausgestaltung nach § 9a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 bis 3 der Corona-VO sei derzeit keine notwendige Schutzmaßnahme. Die Eignung zur Erreichung der infektiologischen Ziele sei durch die – fraglos erforderlichen – zahlreichen Ausnahmen in § 9a Abs. 1 Satz 2 Corona-VO bereits reduziert. Allein im von der 2-G-Regelung nicht umfassten Lebensmitteleinzelhandel finde der weit überwiegende Teil täglicher Kundenkontakte statt. Auch die Erforderlichkeit sei zweifelhaft. Der Senat habe bereits mehrfach beanstandet, dass verlässliche und nachvollziehbare Feststellungen zur tatsächlichen Infektionsrelevanz des Geschehens im Einzelhandel fehlten. Es sei nicht ersichtlich, dass die Erforschung von Infektionsumfeldern auch durch das Land Niedersachsen intensiviert worden wäre, um die Zielgenauigkeit der Schutzmaßnahmen zu erhöhen. Eine schlichte Übertragung von Erkenntnissen zum Geschehen in geschlossenen Räumen von Sport- und Freizeiteinrichtungen (vgl. hierzu die Pressemitteilung Nr. 62 vom 10.12.2021) dränge sich angesichts erheblicher Unterschiede zu dem Geschehen im Einzelhandel nicht auf. Letzteres erscheine jedenfalls regelmäßig durch eine kürzere Verweildauer der Kunden, eine geringere Kundendichte, eine geringere Anzahl unmittelbarer Personenkontakte (Face-to-Face), geringere körperliche Aktivitäten und eine bessere Durchsetzung von Hygienekonzepten gekennzeichnet. Zudem könnten die Kunden, wie in vielen anderen Alltagssituationen, auch im Einzelhandel verpflichtet werden, eine FFP2-Maske zu tragen. Nach neueren Erkenntnissen dürften Atemschutzmasken dieses Schutzniveaus – eine in Betrieben und Einrichtungen des Einzelhandels durchaus durchzusetzende richtige Verwendung der Maske vorausgesetzt – das Infektionsrisiko derart absenken, dass es nahezu vernachlässigt werden könne. Auch das Robert Koch-Institut sehe in seiner ControlCOVID-Strategie zur Vorbereitung auf den Herbst/Winter 2021/22 selbst für die höchste Warnstufe nicht den Ausschluss ungeimpfter Kunden vom Einzelhandel vor. Die Corona-VO hingegen ordne die 2-G-Regelung bereits ab der Warnstufe 1 an, die durch ein mildes Infektionsgeschehen gekennzeichnet sei. Selbst bei der derzeit geltenden Warnstufe 2 erachte der Verordnungsgeber das Infektionsgeschehen als beherrschbar. Zur Reduzierung eines solchen Infektionsgeschehens leiste die 2-G-Regelung in ihrer konkreten Ausgestaltung durch § 9a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 bis 3 Corona-VO nur einen sehr geringen Beitrag. Dieser könne durch eine FFP2-Maskenpflicht auf ein für das Infektionsgeschehen irrelevantes Niveau reduziert werden. Demgegenüber stünden durchaus erhebliche Eingriffe in die Grundrechte der ungeimpften Kunden und der Betriebsinhaber. In dieser Relation – beherrschbares Infektionsgeschehen, geringe Wirkung der Infektionsschutzmaßnahme und erhebliche Grundrechtseingriffe – erweise sich die 2-G-Regelung im Einzelhandel derzeit als unangemessen. Eine andere Bewertung gebiete – bei objektiver Betrachtung des dem Senat bekannten oder vom Land Niedersachsen präsentierten aktuellen Erkenntnisstands – auch die neue Omikron-Variante nicht.
Die 2-G-Regelung im Einzelhandel in der konkreten Ausgestaltung nach § 9a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 bis 3 Corona-VO dürfte auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht zu vereinbaren sein. Nachvollziehbare sachliche Gründe dafür, dass beispielsweise zwar Gartenmarktgüter, Güter des Blumenhandels einschließlich der Güter des gärtnerischen Facheinzelhandels und Güter zur Reparatur und Instandhaltung von Elektronikgeräten zu den von der 2-G-Regelung ausgenommenen „Gütern des täglichen Bedarfs oder zur Grundversorgung der Bevölkerung“ gezählt würden, aber Baumärkte uneingeschränkt der 2-G-Regelung unterworfen blieben, seien nicht erkennbar.
Schwerwiegende öffentliche Interessen, die einer vorläufigen Außervollzugsetzung der danach voraussichtlich rechtswidrigen Regelung entgegenstünden, seien nicht gegeben. Unter Berücksichtigung der in den zurückliegenden Corona-Verordnungen getroffenen Infektionsschutzmaßnahmen und des aktuellen Infektionsgeschehens auch im Land Niedersachsen sei die 2-G-Regelung im Einzelhandel kein wesentlicher Baustein in der Strategie der Pandemiebekämpfung des Landes Niedersachsen. Dies folge auch nicht aus der maßgeblich politischen Festlegung in der Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 2. Dezember 2021.
Die Wichtigkeit der Gerichtsentscheidung kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Zumal mit dem Oberverwaltungsgericht eine sehr hohe Instanz diese Entscheidung getroffen hat, und man deshalb auch nicht wie bei anderen Entscheidungen einfach darauf verweisen kann, dass es sich um eine Entscheidung aus niedriger Instanz handelt. Normalerweise orientieren sich andere Richter an Entscheidungen ihrer Kollegen auf so hoher Ebene. Ob diese in diesem Falle auch so sein wird, darf mit Spannung beobachtet werden. Denn natürlich ist der Spruch der Lüneburger Richter alles andere als staatstragend und man darf davon ausgehen, dass nicht alle Richter den Mut haben werden, derart deutlich gegen ihren obersten Dienstherren – und damit quasi auch die Hand, die sie füttert – Recht zu sprechen. Umso größer der Respekt, der den Lüneburger Richtern gebührt.
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Text: red