Anti-amerikanische Berichterstattung bei der „Welt“ „Erst kommt die Finsternis, dann eine neue Art der Demokratie“

Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung

Am 30. November 2021 erschien in der „Welt“ eine Analyse mit der Überschrift „Erst kommt die Finsternis, dann eine neue Art der Demokratie“. Darunter zeigte ein Foto Joe Biden, der gerade aus seinem Präsidenten-Helikopter gestiegen war und nun über den Rasen ging. Leicht vorgebeugt, so als trage er im tief stehenden Sonnenlicht eine schwere Bürde. Dazu hieß es: „Donald Trump wird 2024 sehr wahrscheinlich wieder an die Macht kommen, Amerika droht das Chaos. Joe Bidens Vermächtnis wird diese Krise aber überleben und einer multirassischen Demokratie den Weg ebnen.“ Den entscheidenden Schritt dazu habe der amtierende US-Präsident bereits getan. Anschließend analysierte Welt-Autor Hannes Stein für seine Leser Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vereinigten Staaten.

Stein, der seit 2007 Kulturkorrespondent für „Die Welt“ in den USA ist, wurde 1965 in München geboren. Seit 2012 besitzt der in New York City lebende Journalist auch die amerikanische Staatsangehörigkeit. Steins Biografie macht ihn also zu einem Kenner der europäischen und der US-amerikanischen Verhältnisse. Dafür, dass sein Interesse an dem großen, weiten Land jenseits des Atlantiks nicht oberflächlich, sondern tief und langfristig ist, spricht darüber hinaus sein Studium der Amerikanistik. Insofern hat die „Welt“ hier ganz offensichtlich genau den richtigen Mann, um ihre deutschen Leser über die Realität in den USA zu informieren.

Freiheit 'kann einem auch Angst einjagen'

Diese positive Einschätzung zerbröselt allerdings bereits in Hannes Steins einleitender Formulierung, dass sich die USA nach dem Trump’schen „Chaos“ zu einer „multirassischen Demokratie“ entwickeln würden. Denn eben das kann das Land nur dann tun, wenn es bisher eine „mono-rassische Demokratie“ gewesen ist, was anhand der amerikanischen Geschichte nahezu automatisch bedeuten würde, dass die USA – Stand jetzt – eine „weiße Demokratie“ sind. Eine Feststellung, die schwarze Intellektuelle wie Thomas Sowell, Jason Riley oder der Obama-Biograph Shelby Steele wohl kaum teilen.

Steele, dessen Eltern in der Bürgerrechtsbewegung noch selbst aktiv waren, ist sich der tiefen Wunden von Sklaverei und Rassentrennung durchaus bewusst. Aus dieser traumatischen Geschichte habe sich eine „Gruppenidentität“ entwickelt, die heute leider zum Kernstück der schwarzen Identität geworden sei. Die Identität eines Opfers, die von Politikern be- und ausgenutzt würde. Dabei hätten sich die USA in den vergangenen 60 Jahren radikal transformiert und die Schwarzen seien inzwischen fraglos freie Menschen.

Aber Freiheit „kann einem auch Angst einjagen, weil sie ihrem Besitzer eine große Last auf die Schultern legt, wenn sie sagt: ‚Nun hast du, was du wolltest, jetzt sei für dich selbst verantwortlich.’“ Deshalb müsse man laut Steele „endlich die Abwertung, die uns [Schwarzen] durch die positive Diskriminierung auferlegt wurde, überwinden“.

Obamania

Ähnlich argumentiert auch Steeles Kollege Jason Riley, der seit 1994 für das Wall Street Journal schreibt. 2014 veröffentlichte Riley das Buch „Please Stop Helping Us: Wie Linke es Schwarzen schwer machen, erfolgreich zu sein“. Der Ökonom Thomas Sowell lobte es überschwänglich: „Nehmen Sie es, schlagen Sie eine beliebige Seite auf und Sie sehen, wie der Autor Unsinn zerlegt.“

Barack Obamas Politik – ökonomisch, sozial und gesellschaftlich – sehen alle drei eher kritisch. So erklärte der inzwischen 88-jährige Sowell, als man ihn 2018 nach seiner Meinung zu Donald Trumps Arbeit im Weißen Haus fragte: „Ich denke, er macht es besser als der Präsident davor.“ Eine Aussage, die den angesehenen Wirtschaftsprofessor aus Sicht vieler deutscher Medienvertreter als Interviewpartner geradezu disqualifiziert. Ein schwarzer Harvard-Student passt nämlich nur mit der gehörigen Portion Obamania ins bundesdeutsche Raster.

'Enormer moralischer Fortschritt'

Ähnliches gilt für Shelby Steele. Zwar sagt der Publizist „Natürlich bin ich stolz darauf, dass ein Schwarzer Präsident geworden ist“, ansonsten fällt seine Obama-Analyse recht nüchtern aus (reitschuster.de berichtete darüber ausführlich hier). So nüchtern, dass man ihn – hätte er eine weiße Hautfarbe – in den hiesigen öffentlich-rechtlichen Medien in eine rassistische Ecke bugsieren würde. Aber der Mann ist nun mal schwarz, also schweigt man ihn und seine Meinung tot.

Zumal für deutsche Journalisten genau das nicht gilt, was Shelby Steele dem „weißen Amerika“ attestiert: „einen enormen moralischen Fortschritt seit den 1960ziger Jahren“ gemacht zu haben. Einen „Fortschritt“, der sich auch mit wenigen Englischkenntnissen leicht recherchieren ließe; hier ein paar biografische Kerndaten:

1940 erster schwarzer Armee-General: Benjamin O. Davis Sr.
1954 erster schwarzer Luftwaffen-General: Benjamin O. Davis Sr. Sohn Benjamin O. Jr.
1966 erster (gewählter) schwarzer Senator: Edward Brooke
1966 erster schwarzer Minister in einem US-Kabinett: Robert C. Weaver
1967 erster schwarzer Richter am US Supreme Court: Thurgood Marshall
1971 erster schwarzer Admiral in der US Navy: Samuel L. Gravely Jr.
1974 erster schwarzer Bürgermeister von Detroit: Coleman Young
1979 erster schwarzer General im US Marine Corps: Frank E. Petersen
1983 erster schwarzer Astronaut: Guion Bluford
1988 erster schwarzer Polizeichef in Philadelphia: Willie L. Williams
1989 erster schwarzer Generalstabschef: Colin Powell
1990 erster schwarzer Bürgermeister von New York City: David Dinkins
1990 erster (gewählter) schwarzer Gouverneur: Douglas Wilder

'Hängt Mike Pence!'

Aber diese Nicht-Obamas, die lange Zeit – mal direkt, mal indirekt – als „Onkel Toms“ geschmäht worden sind, weil sie sich bei ihrem „Weg durch die Institutionen“ zu sehr an das Regelwerk der Weißen angepasst hatten, interessieren die meisten deutschen Journalisten nicht die Bohne. Bei ARD, ZDF und bei „Die Welt“ geht es eigentlich immer nur so:

Sklaven in Ketten, Lynchjustiz und weiße Neo-Nazis auf der einen Seite, Obama auf der anderen. Grautöne gibt es nicht. Auch nicht bei Hannes Stein. Auch er eilt mit seinem deutschen Leser, nachdem er die USA zu einer „weiße Demokratie“ abgestempelt hat, weiter in die „Epoche der Finsternis und des Chaos“, die nach Joe Biden kommen wird.

Als Beweis hierfür, und dass die aktuelle „amerikanische Demokratie“ ohnehin „verloren“ sei, zieht der „Welt“-Autor den republikanischen Senator Joe Barrasso heran. Der habe nämlich inzwischen „bei vier verschiedenen Gelegenheiten“ versäumt, „sich von dem Ausruf ‚Hängt Mike Pence!’ zu distanzieren, der am 6. Januar 2021 beim Sturm auf das Kapitol laut geworden war“. – Eine extreme Verkürzung dessen, was der Senator aus Wyoming tatsächlich gesagt bzw. nicht gesagt hatte.

Noch mal 6. Januar hatte Barrasso zu den Vorfällen im und am Kapitol erklärt: „Gewalt und Zerstörung haben in unserer Republik keinen Platz!“ In der Folge hatte sich der Senator auch davon distanziert, dass Donald Trump den Ruf von Demonstranten („Hängt Mike Pence!“) in den Bereich des „gesunden Menschenverstandes“ eingeordnet hatte, wobei Trump Bezug auf die Betrugsvorwürfe bei der US-Präsidentschaftswahl 2020 nahm. Und diese Vorwürfe sind eben nicht so völlig unbegründet und so eindeutig von US-Gerichten widerlegt worden, wie es die links-liberale Presse in den USA und unisono alle deutschen Leitmedien immer wieder erklären. (reitschuster.de berichtete darüber hier).

FBI: Keine einzige Anklage bisher

Insbesondere bei der Briefwahl sind die Fragezeichen in einigen Bundesstaaten und dort in speziellen Countys eben nicht ausgeräumt (reitschuster.de berichtet darüber u.a. hier). Genauso wenig sind die genauen Umstände – und das tatsächliche Gewaltpotential – beim „Sturm auf das Kapitol“ bisher aufgeklärt. Das sehen nicht nur heißblütige Trump-Fans so, sondern auch renommierte Journalisten wie Glenn Greenwald.

Greenwald dürfte Welt-Autor Stein durch seine journalistische Zusammenarbeit mit dem Whistleblower Edward Snowden ein Begriff sein. In seinem Podcast vom 5. November 2021 stellt der Journalist eine ganz entscheidende Frage, die Hannes Stein erstmal beantworten müsste, bevor er Senator Barrasso in seinen Zeugenstand zerrt:

„Wieso demonstrieren Sie nicht jeden Tag vor dem US-Justizministerium… dagegen, dass Joe Bidens Justiz fast neun Monate nach den Ereignissen vom 6. Januar immer noch nicht auch nur eine einzige Person für die schweren Verbrechen angeklagt hat, von denen demokratische Politiker und die mit ihnen assoziierten Medien in einer Dauerschleife berichten: Hochverrat, Volksverhetzung, Anstiftung zum Aufruhr und der Versuch, gewählte Volksvertreter zu töten, gezielt zu ermorden oder zu entführen?!“

Niemand wurde diesbezüglich bisher vom FBI angeklagt. Und eben das ist nicht ganz unwesentlich bei der Beurteilung des Ausrufs „Hängt Mike Pence!“

Ohne den Nachweis von Gewaltbereitschaft gegen Personen ist es nämlich lediglich ein derber Spruch auf einer politisch aufgeheizten Demonstration und eben keine „Morddrohung“, wie Hannes Stein es seinen Lesern berichtet. Und dass sich Senator Barrasso von diesem Spruch nicht vollends distanziert hat, mag man als Beobachter durchaus ein „Versäumnis“ nennen. Als Beweis dafür, dass die „amerikanische Demokratie“ bereits jetzt „verloren“ ist, taugt es allerdings nicht. Zumal sich auch Demokraten – Anhänger, Wähler und Amtsträger – einer Sprache gegenüber ihrem politischen Gegner bedienen, die ebenfalls voller Gewalt-Metaphern ist.

Trump 'eine Kugel in den Kopf verpassen'

Das hat spätestens das zweite Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump gezeigt, in dem man ihm u.a. mit seiner Aussage „Kämpft wie die Hölle! (Fight like Hell!)“ versucht hatte, einen Aufruf zu Gewalt nachzuweisen. Gekontert wurde dieser Anklagepunkt durch seine Anwälte mit einem Video-Zusammenschnitt demokratischer Gewaltaufrufe. Dutzendfach wurde darin wortgleich bekundet, „wie die Hölle“ kämpfen zu wollen. Trump selbst müsse, sollte oder könnte man „ins Gesicht schlagen“, „hinter der Sporthalle vermöbeln“ oder gleich „eine Kugel in den Kopf verpassen“. Auch Gewalt gegen Sachen erschien demokratischen Vertretern gerechtfertigt. Diesmal sollte allerdings nicht das Kapitol gestürmt, sondern das Weiße Haus „in die Luft gesprengt“ werden.

Anstatt diese Vielfalt der politischen Meinungsäußerungen und die jeweils hinter ihnen stehenden Argumente dem deutschen Leser nahezubringen, stapelt Welt-Autor Stein einseitige Betrachtungen aufeinander und eilt über sie trockenen Fußes zum allumfassenden Urteil einer „Finsternis“, die spätestens mit Donald Trumps zweiter Amtszeit über die USA hereinbrechen wird. Das ist nicht nur eine bedauerlich einseitige sondern auch eine in der Summe falsche Einschätzung der amerikanischen Realität. Es sei denn, man fühlt sich als Journalist dazu berufen, all jene Amerikaner zu ignorieren, die in Trump und der mit ihm verbundenen MAGA-Bewegung (Make America great again) eben nicht die „Finsternis“ sondern das „Licht“ erkennen.

General Flynns 'Staatsreligion'

Der nächste von Steins Kronzeugen dafür, dass die „amerikanische Demokratie“ „verloren“ ist, ist Ex-General Michael Flynn. Zweifelsohne ein erzkonservativer Hardliner, den man auch getrost als „rechts“ bezeichnen kann. Allerdings gibt es auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums in den USA politische Irrläufer wie zum Beispiel die demokratische Kongressabgeordnete Ilhan Omar. Omar, die in den deutschen Medien unter dem samtweichen Label „links-progressiv“ läuft, vergleicht auch mal die USA mit den Taliban oder zeigt Schwierigkeiten, sich von antisemitischem Gedankengut zu trennen.

„Ex-General Michael Flynn“, so Welt-Autor und Chef-Ankläger Stein, „sagte neulich in einer Ansprache: ‚Wenn wir eine Nation unter Gott haben wollen, und das müssen wir, dann müssen wir auch eine Religion haben. Eine Nation unter Gott und eine Religion unter Gott.’ Früher wäre so etwas auch unter amerikanischen Rechten unsagbar gewesen, weil jeder gewusst hätte, dass die amerikanische Verfassung die Einrichtung einer Staatsreligion verbietet…“

Von ihrem „Schöpfer“ gleich erschaffen

Zunächst einmal ist es richtig, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten („We the people…“) als ein säkulares Dokument aufgesetzt worden ist und dass das Wort „Gott“ (god) in ihr nicht vorkommt. Allerdings leitete sich der (damalige) Gedanke von der Gleichheit der Menschen aus der biblischen Schöpfungsgeschichte und der theologischen „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen ab. Dementsprechend lautet die Präambel der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776, die Grundlage der US-Verfassung ist:

„Wir halten die Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden und dass sie von ihrem Schöpfer („creator“) mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind wie Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.“ – Man kann es schlecht oder gut finden, Fakt ist: Die Gründungsväter der USA verstanden sich als eine Art Werkzeug der Vorsehung Gottes und schufen ihren neuen Staat schon auch als „eine Nation unter Gott“ bzw. in einem Kosmos, der von seiner Vorsehung (providence) durchwaltet ist.

Insofern sind Gott (god) bzw. der Schöpfer (creator) und die USA als Nation historisch durchaus miteinander verkoppelt, auch wenn in der US-Verfassung die Religionsfreiheit fest verankert und „Staatsreligion“ verboten ist. Dieses verfassungsmäßige Recht hatte General Flynn auf einer religiösen Veranstaltung der „ReAwaken Tour“ mit seinen Worten durchaus übersehen oder – je nachdem, wo man steht – rüde mit Füßen getreten.

Flynns Worten (hier das Original Transkript), die eher den Charakter frei formulierter Gedanken als den einer „Ansprache“ hatten, wie es Hannes Stein schreibt, mag man für religiös verbrämte Grütze halten und entsprechend kritisieren, der explizite Aufruf zur Gründung einer „Staatsreligion“ sieht allerdings definitiv etwas anders aus.

Ex-General Flynn und die „Leitkultur“ der CDU

Darüber hinaus hatte der Ex-General in Bezug auf die Vorgeschichte der USA von einem „jüdisch-christlichen Land“ (judeo-christian country) gesprochen, so dass in der von Hannes Stein diagnostizierten „Staatsreligion“ à la Flynn eben nicht nur Christen, sondern auch Juden zuhause wären. Eine Lesart, die sich so auch im Vorstandsantrag für den CDU-Parteitag im November 2010 wiederfinden lässt. Dort hieß es: „Unsere kulturellen Werte, geprägt durch eine christlich-jüdische Tradition, der sich die CDU besonders verbunden fühlt, und die historischen Erfahrungen sind die Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und bilden unsere Leitkultur.“

Der Rückgriff auf die „christlich-jüdische Tradition“ wurde in der deutschen Presse damals zwar scharf kritisiert – „Der Missbrauch der Juden durch die Politik“ (Süddeutsche), Muslime werden „im Namen christlich-jüdischer Tradition ausgegrenzt“ (Frankfurter Rundschau) –, dabei hatte man aber im pro-muslimischen Reflex übersehen, dass die ursprüngliche Herleitung der Menschenrechte ganz wesentlich auf die biblische Schöpfungsgeschichte (Genesis 1,26 ff) des Alten Testaments zurück geht. Und das Alte Testament, das man auch die „Hebräische Bibel“ nennt, ist eben eine der heiligen Schriften des Judentums, weshalb die damalige Formulierung der CDU nicht völlig falsch ist und durchaus als Entlastungsmaterial für den evangelikalen Ex-General in den USA herhalten könnte.

Trotzdem berichtet Welt-Korrespondent Stein im Stil eines laizistischen Feuerwehrmanns weiter und erklärt: „Früher wäre so etwas [wie Flynns Worte] auch unter amerikanischen Rechten unsagbar gewesen… heute wird es heftigst beklatscht.“ – Anhand der Videoaufzeichnung muss man das „heftigst Beklatsch[en]“ allerdings als Fake News bezeichnen. Es war vielmehr ein ganz normaler Applaus. Der darüber hinaus nicht dem von Stein herangezogenen Wortsegment von der „Staatsreligion“ gegolten hatte, sondern Flynns Abgang und dem Auftritt des nächsten Vortragenden, einem Sänger mit Gitarre.

'Let’s go Brandon!'

Trotzdem formuliert Hannes Stein weiter: „…heftigst beklatscht [i]n der Cornerstone Church in San Antonio, Texas, einer jener evangelikalen Megakirchen, die tausenden Gottesdienstbesuchern Platz bieten, brachen die Gläubigen neulich in den frommen Schlachtruf ‚Let’s go Brandon!’ aus — ein rechtsradikales Codewort für: ‚Fickt Joe Biden!’“

„Let’s go Brandon!” mag man, der Gottesdienstsituation geschuldet, wohl als „frommen Schlachtruf“ bezeichnen können, ein „rechtsradikales Codewort“ ist es allerdings nicht. Es ist vielmehr ein „Schmähruf gegenüber dem 46. US-Präsidenten Joe Biden“ (deutsches Wikipedia), der inzwischen einem „politischen Slogan“ (englisches Wikipedia) gleichkommt. Entstanden war er, als bei einem NASCAR-Rennen in Alabama im Oktober 2021 der Fahrer Brandon Brown nach seinem Sieg interviewt wurde, während im Hintergrund „Fuck Joe Biden“-Rufe hörbar wurden. Den urplötzlich politischen Moment überspielte die Sportjournalistin Kelli Stavast durchaus nicht ungeschickt mit der Erklärung, die Menschen wären begeistert und würden wegen Brandons Sieg „Let’s go Brandon!” rufen.

'Leck mich am Arsch!'

Anschließend wurde in den sozialen Netzwerken „Let’s go Brandon!” zu einem Synonym für „Fuck Joe Biden“. Inzwischen gibt es sogar T-Shirts und Songs mit dem Slogan, der letztendlich den wachsenden Unmut vieler US-Amerikaner über Bidens Politik in Worte fasst. Ein Unmut, der weder eingebildet noch klein ist, wie die desaströsen Umfragewerte des US-Präsidenten zeigen (reitschuster.de berichtete darüber hier und hier).

Gemessen an diesem Unmut sollte man „Let’s go Brandon!” vielleicht auch eher mit „Biden kann uns am Arsch lecken!“ übersetzen als mit einem plumpen „Fickt Joe Biden!“ Aber weil man damit in Deutschland wohl zu nahe an Goethes „Götz von Berlichingen“ und damit an Bildung und Verstand dran wäre, entschied sich Welt-Autor Stein für die bildungsferne Brachial-Variante. Dabei hätte ihm als linguistisch bewanderter Mensch durchaus bewusst sein müssen, dass in der deutschen Vulgärsprache der Arsch und die Fäkalien den Ton angeben, während im US-Amerikanischen so ziemlich alles gefickt wird (to fuck) oder gefickt ist (fucked).

Von Gang Bang zum 'Staatsstreich'

Trotzdem wählte Stein das für seine deutschen Leser eigentlich völlig nutzlose Bild, wie ein 79 Jahre alter Mann Opfer eines Gang Bangs wird. Er wählt es, weil er mit „Leck’ mich am Arsch, Joe!“ die Assoziation von physischer Gewaltbereitschaft verloren hätte. Die aber braucht Ankläger Stein, um im Zusammenspiel mit „rechtsradikal“ und „Codewort“ zu Trumps Putschversuch vom 6. Januar 2021 zu kommen. Und das geht so:

„In der Cornerstone Church in San Antonio (…) brachen die Gläubigen neulich in den frommen Schlachtruf ‚Let’s go Brandon!’ aus — ein rechtsradikales Codewort für: ‚Fickt Joe Biden!’

Immer mehr Dokumente kommen ans Tageslicht, die belegen, dass im Januar 2021 in der Tat ein Staatsstreich geplant war – ein Versuch, Donald Trump gegen den Willen der demokratischen Mehrheit im Amt zu halten.“

Und eben dieser „Staatsstreich“ interessiert in den USA im Moment „niemanden mehr“, so der dort lebende Welt-Journalist weiter. Warum das so ist, analysiert Stein allerdings nicht, sonst wäre er nämlich mit Greenwalds unangenehmem Lackmustest konfrontiert gewesen (und / oder Bidens miserablen Umfragewerten). Stattdessen eilt Stein von seiner „Staatsstreich“-Behauptung fix weiter zur Prognose eines Wahlsiegs der Republikaner bei den US-Zwischenwahlen 2022 (midterm elections). Anschließend werden die Republikaner dann „den Boden bereiten, damit zwei Jahre später Donald Trump an die Macht zurückkommt. Dies wird bürgerkriegsähnliche Wirren zur Folge haben, die es Trump erlauben werden, seine Macht noch weiter zu festigen. – Was ist also Joe Bidens Plan, der ihn und die amerikanische Demokratie überleben wird?“

Das (und einiges mehr) enthüllen wir im 2. Teil.

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.

Bild: Nicole Glass Photography/Shutterstock
Text: Gast

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