Gastbeitrag von Jerzy Maćków, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg
Wir wissen sehr wenig darüber, was gerade in Kasachstan geschieht. Das, was wir sicher wissen, lässt allerdings schon einige Schlüsse zu. Das sind aber keine, die in den deutschen Medien normalerweise gezogen werden. Normalerweise werden die kasachischen Unruhen als Ausdruck des Strebens nach Demokratie und Freiheit interpretiert.
Obwohl Kasachstan mehr Freiheit und zivilisierte Ordnung bitter nötig hätte, ist es nicht sinnvoll zu erwarten, dass es sie infolge der laufenden Proteste erkämpfen wird. Und das liegt nicht ausschließlich am brutalen Regime.
Kasachstan war niemals eine freiheitliche Demokratie: Weder in der Sowjetunion noch unter dem ehemaligen Kommunisten Nursultan Nasarbajew, der aus der Sowjetrepublik einen unabhängigen Staat gemacht hatte, noch nach 2019, als sich Nasarbajew vom Präsidentenamt verabschiedete, um als Vorsitzender des mächtigen Sicherheitsrates in Rente zu gehen. Sein Rücktritt von damals wurde oft als ein geschickter Schachzug eines alten kriminellen Politikers gesehen, der den Herbst seiner Lebensjahre ohne politische Verpflichtungen und trotzdem in Sicherheit absolvieren würde. Einige vermuteten, dass es auch ein Modell für einen anderen Kriminellen an der Macht sein könnte: den russischen Präsidenten.
In beiden Fällen ist die Vermutung falsch. Putin wird den Kreml entweder in Handschellen oder auf einer Todesbahre verlassen. Was Nasarbajew angeht, so haben wir bisher nur Grund für die Annahme, dass er seinen Lebensabend wahrscheinlich irgendwo in Kuwait verbringen wird.
Die letzte Nachricht mag diejenigen optimistisch stimmen, die entgegen allen Beweisen glauben wollen, dass Demokratie überall auf der Welt auf dem Vormarsch ist. In der Tat ist es eine Art späte Gerechtigkeit, dass ein Autokrat vor seinen Landleuten in die Wüste fliehen muss. Das hat aber noch nichts mit Demokratisierung in seinem Land zu tun, und zwar aus zwei Gründen: Die Proteste haben nicht den demokratischen Charakter, und das von Nasarbajew aufgebaute Regime erhält militärische Hilfe von Russland.
Die kasachische Revolte brach bekanntlich aus ökonomischen Gründen aus. Die drastische Erhöhung der Energiepreise in einem Land, in dem es wenige Superreiche, nur eine dünne Schicht der Mittelklasse und eine breite Masse der Armen gibt, musste die zwei letztgenannten Gruppen in Aufruhr bringen. Das repressive Regime hatte freilich dafür gesorgt, dass es in Kasachstan keine nennenswerte politische Opposition gibt, die die Proteste hätte anführen können. Es kommt hinzu, dass das Land und besonders seine Eliten in der sowjetischen Ära stark russifiziert wurden. Gerade die kasachische Mittelklasse wird zum beträchtlichen Teil von Russen gebildet, die dem Kreml-Herrscher nur selten nicht wohlgesonnen sind. In einer solchen Gesellschaft sind die chaotischen und nicht gewaltfreien Proteste zwar für die Regierenden gefährlich, aber sie bilden kein Fundament für einen demokratischen Wandel.
Während die Unruhen zumindest die berechtigte Unzufriedenheit mit dem kriminellen Regime zum Ausdruck bringen, stellt die russische Militärhilfe für den barbarisch agierenden, noch von Nasarbajew bestimmten Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew eine Katastrophe für Kasachstan dar. Erstens ist es schwer anzunehmen, dass Putin Soldaten schickt, ohne sich dessen sicher zu sein, dass sie die Revolte unter Kontrolle bekommen werden. Zweitens ist nicht damit zu rechnen, dass die russischen Truppen das Land verlassen werden.
Kasachstan, ein Staat, der erst seit gut vierzig Jahre existiert, kann infolge der Proteste seine Souveränität verlieren. Russland, dessen politisches System nicht um ein Quäntchen besser als das kasachische ist, kann der ökonomische Profiteur (Zugriff auf riesige Rohstoffvorkommen Kasachstans) als auch politische Gewinner (starker Einfluss auf die kasachische Regierung) der Unruhen sein.
Wer aber will, darf die Meinung vertreten, dass die Proteste in Kasachstan als Ausdruck des Strebens nach Demokratie und Freiheit zu sehen sind. Man darf ja Gutmensch sein.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können
Jerzy Maćków, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Seinen Blog finden Sie hier. Besuchen Sie auch seine Gruppe Multiplikatoren auf Facebook!
Bild: Screenshot TV-Sender Doschd
Text: Gast
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