Von Alexander Wallasch
Israel startete furios in die Bewältigung der Corona-Pandemie und galt vielen als beneideter Impfweltmeister. Impfkampagnenmacher weltweit bejubelten Erfolg und rigorose Vorgehensweise von Haifa bis Aschkelon.
Bei Cineasten wurden Erinnerungen wach an diese beeindruckende Szene aus dem Zombie-Schocker „World War Z“ mit Brad Pitt, über welche die Jüdische Allgemeine schrieb:
„Gleich nach seiner Ankunft trifft Pitt auf einen hochrangigen Mossad-Agenten. Der verweist (ihn) auf die Mossad-Methode: ‚Der zehnte Mann muss daran glauben, dass sich neun Leute irren könnten. Ich bin dieser zehnte Mann.’“
Der Film feiert hier ein „vorauseilendes Sicherheitsdenken“ Israels. Aber schon Mitte 2021 mehrten sich auch kritische Stimmen zum Erfolg der Impfkampagne. So schrieb ZDF Online: „Lange galt Israel als Vorbild bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie, doch die Zahl der Infektionen ist so hoch wie seit Monaten nicht mehr. Die Impfkampagne stockt.“
Um im Bild zu bleiben: Das Prinzip des zehnten Mannes versetzt auch in die komfortable Lage, einmal gefällte Entscheidungen zu revidieren. Wo Deutschland sich festgefressen hat mit seiner Strategie maximaler Einschränkungen, reagiert der einstige Impfweltmeister Israel deutlich flexibler. So wie Israel als erstes Land der Welt den Impfnachweis einführte, fordern führende Experten und Regierungsberater heute wie selbstverständlich, diesen wieder abzuschaffen. Omikron würde den Grünen Pass überflüssig machen.
Bemerkenswert ist hier, dass diese Kehrtwende in Israel passiert, während das Land eine Inzidenz (1. Februar 2022) von astronomisch erscheinenden 5.120,5 aufweist und Deutschland im selben Zeitraum heute bei 1.206 liegt.
Manch einer wird sich lebhaft erinnern: Als die Inzidenz hierzulande auf unter 50 sank, mahnte die Merkel-Regierung, diesen Wert noch weiter zu senken, bevor die Freiheiten zurückkommen dürften – bei einem Wert von 35 fragte der Tagesspiegel dann wiederum ganz zaghaft Richtung Bundeskanzlerin: „Sind Öffnungen schon vor Ende des Lockdowns möglich?“ Im Rückspiegel betrachtet ist das gespenstisch und grotesk.
Israel liegt jetzt beim mehr als 150-fachen Wert und der Grüne Pass – nur mit ihm kann man befreit am öffentlichen Leben teilnehmen – läuft am 1. Februar aus, von einer Verlängerung dieser Maßnahme ist kaum noch die Rede. Es sieht sogar so aus, dass die für die Weiterführung der Maßnahme(n) zuständige Kommission sich mehrheitlich für eine weitere Öffnung aussprechen wird. In der Kommission sitzen Experten, deren Rat die Entscheidung der Regierung maßgeblich beeinflusst.
Die Welt zitiert Nadav Davidovitch, der dem Beraterstab der israelischen Regierung angehört, so: „Der Impfnachweis vermittelt eine falsche Sicherheit.“ Die Impfung schütze zwar nach wie vor gut vor schweren Verläufen. Aber nicht mehr vor der Infektion selbst. Die beratenden Fachleute in Israel erkennen an, dass die Geimpften das Virus dennoch weiterverbreiten könnten.
Wie hartnäckig das Festhalten an dem Gedanken einer weltumspannenden pandemischen Katastrophe ist, beweist eine Arbeit der Jerusalem Post, die sich unter dem Einfluss von Omikron die Mühe gemacht hat, eine Liste mit Symptomen zusammengetragen, bei denen die Betroffenen an COVID-19 erkrankt waren, es aber gar nicht wussten. Wer allerdings nicht wusste, dass er krank war, der war auch nicht krank, beziehungsweise der muss sich um so eine subtil gewordene Krankheit kaum Sorgen machen.
Die Post schreibt: „Wenn Sie sich nicht krank genug fühlten, um sich testen zu lassen, hatten Sie möglicherweise das Coronavirus und erholten sich, ohne es zu wissen.“
Die Berater der israelischen Regierung wollen den Grünen Pass in Zukunft nur noch für Altersheime und Krankenhäuser. Dabei schrieb die Zeit noch Anfang Oktober 2021 über Israel: „Im Kampf gegen das Coronavirus setzt Israel weiterhin auf die dritte Impfung. Wer sich nach sechs Monaten nicht erneut impfen lässt, erhält keinen Grünen Pass mehr.“
Und vor wenigen Tagen dann die Kehrtwende, dieses Mal vom Handelsblatt aufgeschrieben:
„Israel gibt die Verantwortung für das Krisenmanagement an die Bürger zurück. Das Testsystem wird umgestellt – und die vierte Impfung verliert an Bedeutung.“
Der Epidemiologe Cyrille Cohen, Epidemieberater der israelischen Regierung, erklärte das Konzept des Impfzertifikats in seinem Land für „nicht mehr relevant“. Und Gilad Kariv, er ist Vorsitzender der Parlamentskommission für Verfassung und Recht, gab zu bedenken, dass ohne Nachweis, dass es für eine Verlängerung des „Grünen Passes“ epidemiologische Gründe gibt, das Zertifikat ebenfalls obsolet sei.
Ran Balicer, noch ein Pandemie-Berater des Gesundheitsministeriums, erklärte die Impfzertifikate für unwirksam, da sich auch Geimpfte infizieren und andere anstecken könnten. Beim Betreten von Räumen einen Grünen Pass zu verlangen, sei demnach wirkungslos.
Allerdings will man sich auch nicht gänzlich von einem Kontrollsystem verabschieden. Falls eine neue Variante auftritt, will man den Grünen Pass wieder aktivieren. Vorsicht bleibt also die Mutter der Porzellankiste. Und es gibt auch in Israel Stimmen, die einen Kurs der Öffnung kritisch sehen.
Bemängelt wird, dass mit der Diskussion um die Abschaffung des Grünen Passes die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, weiter gesunken sei, die Impfkampagnen wären faktisch zusammengebrochen. Insbesondere die Impfung von Kindern stagniere jetzt. Auch aufwendige Impfkampagnen, die mit Bussen an Schulen vorfahren, werden nicht wie erwünscht angenommen.
Das Umdenken in Israel bleibt aber ein fast schon radikal zu nennender Einbruch, bedenkt man, dass das Land noch vor Wochen auf dem Weg war, auch Babys impfen zu wollen – Pfizer/Biontech führte dazu bereits Studien an Säuglingen durch. Aber von einer Bereitschaft, dieses Angebot für ihren Nachwuchs anzunehmen, sind die allermeisten israelischen Eltern heute weit entfernt.
Professor Nadav Davidovitch, Berater der israelischen Regierung, sprach sogar davon, dass die staatlichen Impfkampagnen „unethisch“ sind, dass sie nicht auf „epidemiologischen Gründen“ beruhen.
Nachdem die Impfstoffe Anfang 2021 zur Verfügung standen, hatte die deutsche Regierung gerne auf die erfolgreiche Impfstrategie Israels verwiesen. Anfang März 2021 mahnte die Welt die Kanzlerin gar mit dem Du-Du-Finger. Redakteur Philip Volkmann-Schluck schrieb damals an die Adresse von Angela Merkel:
„Sebastian Kurz fliegt nach Israel, um sich anzuschauen, wie schnelles Impfen funktioniert. Dafür hagelt es Kritik. Warum eigentlich? Es wäre doch gut, wenn auch andere Regierungschefs sich dort die Erfolgsrezepte erläutern ließen – allen voran die Bundeskanzlerin.“
Israel steuert jetzt in die entgegengesetzte Richtung, welche Lauterbach und Co in Deutschland anstreben. Wird die Welt jetzt Olaf Scholz auffordern, sich in Israel umzuschauen? Darauf darf man wirklich gespannt sein.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“
Bild: Shutterstock
Text: wal
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