Von Daniel Weinmann
Klaus Stöhr gehört zu den wenigen auch von den reichweitenstarken Medien anerkannten Experten, die es immer wieder wagen, der offiziellen Corona-Doktrin der Regierung Paroli zu bieten. Schon Ende vergangenen Jahres sagte der Virologe und Leiter des Influenza-Programms der WHO voraus, dass das Virus durch die Omikron-Variante endemisch werden würde.
Im Video-Interview mit der „Welt“ legte er an diesem Sonntag nach. Angesichts der nun auch hierzulande zumindest teilweise abgeschwächten Maßnahmen fragt ihn der Moderator, ob es denn wirklich Zeit für Lockerungen gewesen sei. Die Antwort des 63 Jahre alten Epidemiologen ist eindeutig: „Seit es Pandemien gibt, ist deren Ende identisch. In der letzten Phase werden sich alle infizieren. Ob man das möchte oder nicht. Das ist die Realität. Da müssen wir jetzt alle durch.“
Dies sei in den anderen Ländern auf viel mehr Verständnis gestoßen. Zwar sei die Impfung „ja ein tolles Geschenk der Zeit“, mit der man die Auswirkungen dieser nicht vermeidbaren Infektionen reduzieren könne. „Aber ohne die Infektionen wird die Impfung in einer Dauerschleife sein und die Pandemie kommt nie zum Ende.“ Letztendlich werde das Virus sowieso weitergegeben und jeder werde sich infizieren.
»Mit Masken verschieben wir das Drama nur nach hinten«
Dann appelliert er an den Verstand der Masken-Fetischisten, die auch jetzt noch an ihrem längst lieb gewonnenen „Mund-Nasen-Schutz“ festhalten: „Das kann noch sehr lange dauern, wenn man weiter auf Masken und Abstandsregeln setzt. Andere Länder haben gesagt, wir kürzen diese Geschichte ab, solange das Allgemeinwohl nicht gefährdet ist.“
Es gebe immer noch Menschen, die glaubten, dass man die Infektion verhindern könne, so Stöhr. „Das geht nicht, letztendlich ist das Endergebnis vorhersagbar. Es gibt freiwillig Ungeimpfte und freiwillig Geimpfte.“ Da werde sich nicht mehr viel bewegen.
Ohne dass er dessen Namen nennt, dürfte klar sein, dass sich seine darauffolgende Kritik an Karl Lauterbach richtet, der nimmermüde behauptet, sich mit wissenschaftlichen Texten zu beschäftigen: „Dass das selbst medizinisch belesene Personen immer noch nicht verstanden haben, dass man jetzt mit Masken das Drama immer nur weiter nach hinten verschiebt. Das kann ich gar nicht nachvollziehen.“
»Wo gibt es denn die Zahlen und Daten, wie groß die Impflücke ist?«
Auch zur allgemeinen Impfpflicht hat Stöhr, der von 2007 bis Ende 2017 in der Impfstoffentwicklung bei Novartis arbeitete, eine dezidierte Meinung: „Wenn es tatsächlich so wäre, das Ungeimpfte zur Gefahr für das Allgemeinwohl würden und die Intensivstationen und Krankenhäuser belasten würden, dann müsste man die Frage sicherlich diskutieren. Das ist aber jetzt nicht der Fall.“
Stöhr verweist auf Großbritannien, Dänemark und Schweden, wo man die nicht verhinderbaren Infektionen schon länger zugelassen habe. Dort würden die Inzidenzen sinken – im Gegensatz zu Deutschland, wo man immer noch fast die höchsten Anteile an noch nicht natürlich Immunisierten habe.
„Die Ungeimpften sind ja nicht diejenigen, die jetzt das Problem verursachen“, sagt Stöhr. „Wenn das so wäre, müsste man über die Impfpflicht nachdenken. Das ist aber nicht so und ist falsch kolportiert. Deswegen halte ich es für wichtig, dass man diese große Impflücke, wenn es denn eine gibt, auch einmal festmacht. Wo gibt es denn die Zahlen und Daten, wie groß die Impflücke ist?“
Der „Welt“-Moderator scheint wenig Verständnis für die derzeitige Corona-Politik zu haben und fragt entsprechend direkt: „Wer hat das Versäumnis zu tragen? Diese Situation ist doch ein Armutszeugnis für eines der am meisten industrialisierten Länder der Welt.“
»Dass die Menschen so große Angst und Panik haben, dazu gehört eine ganze Menge Warnen auf evidenzfreier Grundlage«
Virologe Stöhr bleibt weiter im Angriffsmodus: „Die Kollegen, die Grundlagen- und Laborwissenschaftler und die Physiker können nichts dafür, dass sie von einer Politik in eine Wissenschaftsberatung gezogen wurden, die nicht strukturiert und in der die Risikobewertung nicht auf der Grundlage eines normalen Krisenmanagements organisiert war.“
Die Regierung habe „auch eine Krisenkommunikation hingelegt, die unterirdisch ist. Nicht umsonst wurde das große Vakuum in der Krisenkommunikation von vielen – einschließlich des Gesundheitsministers – genutzt, der auf eine gewisse Art und Weise für die aktuelle Situation verantwortlich ist.“
Wurde Lauterbach zuvor nur indirekt kritisiert, geht Stöhr nun ganz unverblümt mit ihm ins Gericht: „Dass die Menschen so große Angst und Panik haben, dazu gehört eine ganze Menge Warnen auf evidenzfreier Grundlage.“
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
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