Von Mario Martin
Es sind Worte, die man von dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für Folter hört, die man eher erwartet, wenn es um autoritäre Staaten geht.
Immer wieder kam es bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zu Polizeigewalt. Das mitunter brutale Vorgehen zog sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltungen und konnte auch bei den Montagsspaziergängen diesjährig registriert werden.
In den Blickpunkt rückte das Thema durch eine Demonstration am 1. August 2021 in Berlin. An diesem Tag kam es zu diversen brutalen Einsätzen. Die Polizei hatte damals Anweisung erhalten, mit “niedriger Eingriffsschwelle” gegen die Demonstranten vorzugehen.
Der Schweizer Rechtsprofessor und Diplomat Nils Melzer wurde daraufhin besonders über die sozialen Medien aufgefordert, sich mit dem Einsatz zu befassen und zu intervenieren. Dies tat er auch – damals noch in seiner Funktion als UN-Sonderberichterstatter – und bat um Mithilfe bei der Aufklärung.
Es folgte ein Gespräch mit dem damaligen Innensenator Andreas Geisel (SPD) und der Berliner Polizeiführung.
Polizeigewalt in Deutschland ist ein blinder Fleck
Nun äußerte sich der Jurist zu den Ergebnissen seiner Untersuchung in einem Interview mit der Zeitung ‘Die Welt’ (Paywall).
Zwar ist in Deutschland das Folterverbot allgemein akzeptiert, jedoch sei “die Polizeigewalt…ein blinder Fleck, insbesondere bei Verhaftungen oder Demonstrationen”, so Melzer.
Das von ihm gesichtete Material würde zahlreiche Szenen von Polizisten im Einsatz zeigen, “die eindeutig exzessive Gewalt einsetzten, während die umstehenden Beamten einfach zuschauten oder sogar mithalfen“. Gerade dieses Hinnehmen und Mitmachen sei ein deutlicher Hinweis auf eine bereits etablierte “Kultur der Toleranz für Polizeigewalt”.
Berliner Polizeiführung zeigt nur Unverständnis
Immer wieder waren Menschen gefährlich und demütigend zu Boden gebracht worden, ohne dass ein Anlass dazu bestanden hätte, beschreibt Melzer die Muster des polizeilichen Vorgehens.
In einem Fall war eine Situation auf einem Parkplatz bei der Durchsuchung eines Kofferraums eskaliert.
Diesen Vorfall hätte Melzer in einem Gespräch mit der Polizeipräsidentin Berlins, Barbara Slowik, zur Sprache gebracht, sei aber nur auf Unverständnis gestoßen. “Die Polizei scheint der Irrmeinung zu sein, dass jede ihrer Maßnahmen um jeden Preis durchgesetzt und sogar rein verbale Widerrede sofort mit Gewalt gebrochen werden muss”, bedauert Melzer.
Slowik scheint auch sonst keine Probleme mit dem Einsatz harter Maßnahmen zu haben. 2020 rechtfertigte sie den Einsatz von Wasserwerfern am 18.11. gegen friedliche Menschen, die für den Erhalt ihrer Grundrechte demonstrierten.
Aufhorchen ließ in diesem Zusammenhang eine Äußerung des innenpolitischen Sprechers der Grünen, Benedikt Lux, der 2020 in der sozialistischen Zeitung ‘Neues Deutschland’ formulierte: „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht. Bei der Feuerwehr, der Polizei, der Generalstaatsanwaltschaft und auch beim Verfassungsschutz. Ich hoffe sehr, dass sich das in Zukunft bemerkbar macht.“
Polizeigewalt wird nicht verfolgt
Melzer wird auf einen Vorfall in der Berliner Suarezstraße am 1. August angesprochen, bei dem ein junger Mann auf dem Boden liegend von der Polizei geschlagen wurde.
Der Mann sei vermutlich von den Polizei bewusstlos geschlagen worden, dies wäre aber nicht einmal straf- und disziplinarrechtlich untersucht worden.
Der Sonderberichterstatter fragte im Zuge seiner Untersuchungen nach der Anzahl der Polizisten, die wegen Polizeigewalt seit Januar 2020 verurteilt worden wären. Die Antwort spricht Bände: Nur ein einziger Polizist wurde verurteilt.
Hier würde “offenbar mit zweierlei Maß gemessen. Bei Polizeigewalt besteht eine große Diskrepanz zwischen den normativen Ambitionen der deutschen Rechtsordnung und deren Umsetzung durch die Behörden. Insgesamt vermitteln die offiziellen Statistiken den Eindruck von De-facto-Straflosigkeit durch Verfahrensverschleppung”, beklagt Melzer.
Sollte es dann doch einmal zu Verfahren gegen Beamte kommen, würden diese verschleppt und blieben monate- und jahrelang hängen, bis sie dann sang- und klanglos eingestellt werden.
Melzer sagt, das System funktioniere nicht: “Dass in Deutschland praktisch keine Sanktionen wegen Polizeigewalt verhängt werden, ist daher kein Zeichen von Wohlverhalten, sondern eher von Systemversagen.”
Trend zu Polizeigewalt schon vor der Pandemie erkennbar
Die Politik habe eine große Verantwortung beim Aufbau von Narrativen. In den letzten zwei Jahren wäre es zu einer Polarisierung gekommen, wodurch Demonstranten als Staatsfeinde dargestellt worden wären, erklärt Melzer.
Das Muster der Militarisierung der Polizeikräfte wäre bereits seit den Anschlägen am 11. September 2001 erkennbar. Beamte sähen die Bürger “nicht mehr nur als schutzbedürftige Zivilisten, sondern immer auch als potenzielle Feinde”. Dies führe dazu, dass die Polizei von den Bürgern ihrerseits als Feind wahrgenommen werde.
Der Jurist appelliert zum Abschluss des Interviews an die Staaten, sich die Fälle genau anzuschauen und Täter aktiv zu verurteilen. Diese müssten “den Mut und den Willen aufbringen (…), Rechtsbrüche durch eigene Behörden und Beamten mit aller Konsequenz zu bekämpfen. Tun sie das nicht, sind sie keine wirklichen Rechtsstaaten mehr, sondern nur noch Schönwetter-Demokratien.”
Die Kommentare unter dem Interview auf der Website der Welt sprechen eine deutliche Sprache. Viele Danksagungen an Melzer und an die Welt für die Bearbeitung des Themas und dessen Veröffentlichung sind dort zu lesen.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Mario Martin ist Ökonom und arbeitet als Software-Projektmanager in Berlin.
Bild: Screenshot Youtube Investig’ActionText: mm