Stellen Sie sich für einen Moment vor, Donald Trump – ob als amtierender oder ehemaliger Präsident – hätte folgenden Satz gesagt: „Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heißt überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind.“ Der Aufschrei in den deutschen Medien wäre gigantisch gewesen, Sie hätten nichts anderes gelesen in den Schlagzeilen als Überschriften wie: „Trump gibt Juden Schuld an Holocaust“. Und um es ganz klar zu sagen: Die Empörung wäre gerechtfertigt gewesen.
Das Zitat stammt aber nicht von Donald Trump, sondern von Russlands Außenminister Sergej Lawow. Es stammt aus einem Interview des Ministers mit einem italienischen Privatsender. Der Putin-Getreue wollte mit der Hitler-Aussage das Argument widerlegen, das ihm Kritiker immer wieder vorhalten – und das er dann auch selbst noch einmal anführte: „Wie kann es eine Nazifizierung geben, wenn er“ – also der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj – selbst „Jude ist?“
In vielen deutschen Medien wurde die Aussage über Hitlers angebliches jüdisches Blut zwar wiedergegeben – aber mit angehaltener Handbremse, eher im Kleingedruckten. Georg Häsler von der Neuen Zürcher Zeitung empört sich völlig zu Recht: „Doch Europa schweigt über diese Ungeheuerlichkeit. Wie war das schon wieder mit «nie wieder»? Seltsam schal klingen die Sonntagspredigten von vorgestern. Es gilt die Devise: Empört euch, solange es nicht weh tut. Die einzige Aussage, die aus Lawrows Rede den Weg in die News-Ticker fand, war, dass der Spuk am 9. Mai, am Tag des Sieges im Grossen Vaterländischen Krieg, nicht vorbei ist.“
Tatsächlich hat Hitlers Anwalt, der später als Kriegsverbrecher in Nürnberg zum Tode verurteilte „Schlächter von Polen“, Hans Frank. nach dem Krieg das Gericht verbreitet, dass Hitlers Großmutter als Köchin in einer jüdischen Familie gearbeitet habe und dort geschwängert worden sei . Kein Wissenschaftler hat je Belege dafür gefunden, dass ihr Sohn das uneheliche Kind des jüdischen Hausherrn war. Belege gab es dafür nie. Die These, wurde von allen maßgeblichen Hitler-Biografen verworfen und 1971 von Werner Maser widerlegt. Lawrow erzählt also eine plumpe, längst überführte Lüge. Wobei die Aussage nicht weniger skandalös wäre, wenn sie keine Lüge wäre – weil Lawrow damit zum einen das „Blut- und Boden-Denken“ von Putins und seiner Elite entlarvt. Und weil er den Juden unterstellt, die schlimmsten Judenhasser stammten aus ihren eigenen Reihen; die Juden, so seien These, seien selbst maßgeblich am Judenhass schuld. Das ist geradezu eine Verhöhnung des Holocausts und seiner Opfer.
Israels Ministerpräsident Naftali Bennett ging scharf mit Lawrows Aussagen ins Gericht: „Seine Äußerungen sind unwahr, und sie dienen einem falschen Zweck“, so Bennett, „Es ist das Ziel solcher Lügen, den Juden selbst die Schuld an den schlimmsten Verbrechen der Geschichte zu geben, die gegen sie verübt wurden.“ Außenminister Jair Lapid wurde noch deutlicher: Er sprach von einer „unverzeihlichen, skandalösen Äußerung, einem schrecklichen historischen Fehler“. Israel erwarte eine Entschuldigung, sagte Lapid: „Meinen Großvater haben nicht Juden umgebracht, sondern Nazis.“
Besonders bemerkenswert war der Totalausfall des italienischen Journalisten, der das Interview führte – für einen Sender, der früher dem Putin-Intimus Berlusconi gehörte. „Der Journalist, der das Interview führte, hätte durch einen Mikrofonständer ersetzt werden können“, klagt Häsler: „Kritische Nachfragen? Fehlanzeige. Die Kreml-Propaganda ergoss sich ungefiltert in die guten Stuben zwischen Palermo und Mailand.“ Das Fazit des Journalisten aus der neutralen Schweiz: „Es sieht danach aus, als habe der Kreml Italien ins Visier genommen, um den Westen zu spalten und zu schwächen. Das Land hängt stark vom russischem Erdgas ab und ist nach der Pandemie erschöpft. Zudem sind dieses Jahr Wahlen mit offenem Ausgang. Im rechten und linken Spektrum gibt es einige Putin-Versteher und zudem einen grossen Putin-Freund: Silvio Berlusconi, der Ewig-jung-Geliftete, mischt noch immer in der italienischen Politik mit.“
Ob es tatsächlich um eine Spaltung Italiens ging, kann ich nicht beurteilen. Zuzutrauen wäre es Putin, der ein Großmeister in hybrider Kriegsführung ist – die schon die mongolischen Eroberer des alten Russlands beherrschten. Bevor sie Städte eroberten, ließen sie ihre getarnten Kundschafter dort verbreiten, wie gut es den Menschen unter mongolischer Herrschaft ginge.
Fakt ist, dass der Zynismus, der aus Lawrows Worten spricht, keine Ausnahme ist, sondern die Regel im System Putin. Der bezeichnete noch kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine Berichte aus dem Westen, wonach er eben diesen Einmarsch plane, als Propaganda-Lüge. Als Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auf der Krim einmarschierten, bestritt er, dass es russische Militärs seien – nur um eben diese „grünen Männchen“, wie man sie nannte, wenig später im Kreml auszuzeichnen. Nach den Massakern von Butscha und Umgebung wurde die maßgeblich daran beteiligte Militäreinheit ausgezeichnet. Ebenso wie Putin nach dem Mord an Boris Nemzow den mutmaßlichen Drahtzieher der Tat, Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow im Kreml mit einem hohen Orden auszeichnete. Parallel mit Andrej Lugowoj, dem FSB-Offizier, der 2006 mitten in London Alexander Litwinenko mit hochradioaktivem Polonium vergiftete und so Tausende von Menschen in der City in Gefahr brachte. Die Liste ließe sich schier endlos fortsetzen.
Bild: A_Lesik/Shutterstock
Text: br
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