Von Kai Rebmann
Was war schlimmer? Corona oder die in diesem Zusammenhang erlassenen Maßnahmen, die überall auf der Welt seltsam orchestriert wirkten? Diese Frage entzweit Experten aus den unterschiedlichsten Disziplinen der Wissenschaft auch drei Jahre, nachdem das Virus in die Welt gesetzt wurde. Daran ändert auch nichts, dass Politik und Medien stets einen anderen Eindruck verschaffen wollten und wollen. SARS-CoV-2 ist natürlichen Ursprungs, das Virus ist eine todbringende Seuche und Maßnahmen wie Lockdowns sind alternativlos – so lautete der vermeintliche „wissenschaftliche Konsens“. Diese Narrative verfestigten sich nach und nach auch in der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit. Heute wissen wir – dank Twitter-Files und weiteren Enthüllungen rund um eine Telefonkonferenz führender Virologen – wie die freie Meinungsbildung unterbunden und missliebige Kritiker mundtot gemacht wurden.
Zu den prominentesten Stimmen, die schon zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt vor den dramatischen Folgen von Lockdowns gewarnt haben, gehörte Jay Bhattacharya. Der US-Amerikaner indischer Abstammung ist Direktor des Stanford Center for Demography and Economic of Health and Aging. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Ökonomie des Gesundheitswesens. In einem „Welt“-Interview blickte Bhattacharya jetzt auf die vergangenen drei Jahre zurück und erklärte, was aus seiner Sicht alles schiefgelaufen ist. Hart ins Gericht geht der Stanford-Professor, insbesondere mit Lockdown-Hardlinern wie Karl Lauterbach und Anthony Fauci sowie dem Charité-Virologen Christian Drosten. Diesen „Anführern der wissenschaftlichen Community“ wirft er Machtmissbrauch vor, um einen politischen Willen durchzusetzen.
Great Barrington Declaration machte Jay Bhattacharya zum Ausgestoßenen
Vormals untadelige und hoch angesehene Wissenschaftler wurden in den Corona-Jahren zu Ketzern und Irrlehrern erklärt. Das Verbrechen von Experten wie Sucharit Bhakdi, John Ioannidis oder eben auch Jay Bhattacharya bestand einzig und allein im Widerspruch an einem oder mehreren der eingangs erwähnten Narrative, die bereits im Frühjahr 2020 festgezurrt worden waren. Die Nennung ausgerechnet dieser drei Männer erfolgt an dieser Stelle nicht zufällig. Denn sie zeigt, wie der – ansonsten seit jeher übliche – fachübergreifende Dialog von Wissenschaftlern zu einem deutlich effektiveren Umgang mit der Corona-Krise hätte führen können. Aber das war politisch offenbar nie gewollt.
Dem Stanford-Professor wurde schließlich die Verfassung der sogenannten „Great Barrington Declaration“ (GBD) zum Verhängnis, die im Oktober 2020 von mehreren Wissenschaftlern aus aller Welt unterzeichnet worden ist. Einer der zentralen Punkte dieser Erklärung war die deutliche Kritik an der strikten und aus Sicht der Autoren äußert schädlichen Lockdown-Politik zahlreicher Regierungen. Heute wissen wir, dass die Verbreitung dieser Ansichten auf Twitter und in anderen sozialen Medien durch Zensur und Black Lists massiv eingeschränkt oder teilweise sogar ganz unterbunden wurde. Auch der ehemalige britische Gesundheitsminister Matt Hancock musste inzwischen zugeben, „dass er Propagandamethoden eingesetzt hat, um die Unterzeichner der Great Barrington Declaration zu verleumden und zu vernichten“, wie Bhattacharya in der „Welt“ zitiert wird. All dies hindert das Blatt jedoch nicht daran, den Professor im Laufe des Interviews gleich mehrfach als „umstrittenen Wissenschaftler“ oder „sehr umstrittene Figur“ in Bezug auf Corona zu bezeichnen. Hat man Ähnliches jemals über einen Karl Lauterbach oder Christian Drosten gelesen oder gehört? Leider hat das Springer-Medium die Chance verpasst, seinen Beitrag zur Rehabilitierung eines nachweislich zu Unrecht an den Pranger gestellten Wissenschaftlers damit verpasst.
Bhattacharya wurde eigenen Angaben zufolge von Elon Musk in die Twitter-Zentrale eingeladen. Dabei sei ihm offenbart worden, „dass Twitter mich am ersten Tag, an dem ich mich 2021 bei Twitter anmeldete, auf eine schwarze Liste setzte“. Über diese Einschränkung seiner Reichweite war der Stanford-Professor nicht informiert worden. Als Verfasser der GBD und erklärter Gegner der Lockdowns hatte sich Bhattacharya bei Twitter offensichtlich schon zur unerwünschten Person gemacht, bevor er auch nur einen Tweet hatte absetzen können. Zusammen mit einigen Mitstreitern hat Bhattacharya in den USA inzwischen Klage gegen die Biden-Administration eingereicht. „Wir haben herausgefunden, dass es ein Dutzend Bundesbehörden gibt, die regelmäßig, in einigen Fällen sogar täglich, mit sozialen Medien interagieren, um ihnen zu sagen, was sie unterdrücken sollen und in einigen Fällen, wen sie unterdrücken sollen“, so der Gesundheitsökonom zur Begründung.
‚Lockdowns waren größter Fehler in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit‘
Zur Frage, weshalb sich die Lockdowns in der öffentlichen Wahrnehmung als Nonplusultra der Pandemiebekämpfung etablieren konnten, hat Bhattacharya eine klare Meinung: „Es gab führende Vertreter der wissenschaftlichen Community – wie Karl Lauterbach in Deutschland oder Tony Fauci in den USA – die für diese Politik standen. Wenn unabhängige Wissenschaftler von außen sagen, nein, das ist die falsche Politik, ist man automatisch umstritten.“ Der Stanford-Professor bezeichnet dieses Vorgehen als Versuch, die Unterzeichner der GBD „zu dämonisieren und verleumden.“ So habe zum Beispiel Francis Collins, der Direktor des National Institute of Health in den USA, Wissenschaftler dazu aufgefordert, eine vernichtende Kritik an dieser Erklärung zu verfassen.
Wie befohlen, so geliefert! Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung der GBD wurde als Gegenentwurf das „John Snow Memorandum“ publiziert, zu dessen Unterzeichnern unter anderem ein gewisser Christian Drosten gehörte. Im Gegensatz zur Arbeit der Lockdown-Kritiker wurde dieses Dokument in den Medien breit gestreut und als Widerlegung der GBD gefeiert. Drosten verstieg sich im Überschwang der Euphorie sogar dazu, Bhattacharya und die Unterzeichner der GBD als „Pseudo-Experten“ zu bezeichnen. Der gebürtige Inder zeigt sich wenig nachtragend und bescheinigt seinem Gegenüber, ein „fantastischer Virologe“ zu sein. Aber: „Wenn er über öffentliche Gesundheit spricht, hat er nicht viel Fachwissen. Er versteht nicht wirklich, welche Folgen Maßnahmen wie Lockdowns haben können. Vielleicht versteht er nicht einmal, warum die Lockdowns gescheitert sind.“
Bhattacharya spricht damit die Tatsache an, dass Drosten und weitere Vertreter der „Laptop-Klasse“ es sich durchaus leisten konnten, einfach zu Hause zu bleiben. Und hier kommt die Expertise eines Gesundheitsökonomen ins Spiel, der eben eine gänzlich andere – und wohl auch umfassendere – Sicht auf das große Ganze hat als ein Virologe. „Der Großteil der Bevölkerung musste arbeiten. Sie mussten rausgehen. Sie mussten ihre Familien ernähren. Es war eine unglaublich ungleiche Politik, die sich auf die Armen, die Schwachen, die Arbeiterklasse und die Kinder enorm nachteilig ausgewirkt hat. Und es war völlig vorhersehbar, wenn man etwas Erfahrung im öffentlichen Gesundheitswesen und in den Sozialwissenschaften hätte. Drosten fehlt diese Erfahrung einfach.“ Menschen mit einer anderen Meinung deshalb als „Pseudo-Experten“ zu bezeichnen, sei ein Machtmissbrauch, so der Vorwurf des Stanford-Professors.
Natürlich durfte in dem Interview auch der Hinweis auf Schweden nicht fehlen, das nach Ansicht der „Welt“ zu Beginn der Pandemie völlig versagt habe. Bhattachatrya räumte ein, dass man das bezogen auf „die ersten Tage“ durchaus so sehen könne, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass die eine „perfekte Politik“ im Zusammenhang mit Corona wohl ohnehin nicht geben konnte. Dennoch sei er sich sicher, dass eine bessere Politik möglich gewesen wäre, „wenn wir kreativ gewesen wären und wenn wir die Debatte zugelassen hätten“. Fakt ist zudem: Schweden gehört zu den Ländern, die unter dem Strich am besten durch die Pandemie gekommen sind, was in dem Interview aber lieber nicht thematisiert wurde. Auf die Frage, wie wir in fünf Jahren auf Corona zurückblicken werden, setzte Bhattacharya folgenden Schlusspunkt: „Wir werden auf ein ungeheuer schädliches Virus zurückblicken – und auf die Lockdowns als den größten Fehler in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit, zumindest in Friedenszeiten.“
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
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