Zehn Gebote eines Freundes „Unserer Demokratie“ Neue Orthodoxie moralischer Selbstgewissheit

Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Bertrand Russell war ein Philosoph der besonderen Art, der sich nicht auf ein Thema festlegen ließ, sondern auf sehr unterschiedlichen Gebieten arbeitete – sei es in der Philosophie der Mathematik, der politischen Philosophie, der Philosophiegeschichte oder der analytischen Philosophie –, der sich aber auch politisch einmischte. Zudem war er, abgesehen von einer kurzen desillusionierenden Phase kommunistischer Vorlieben, zeitlebens ein Liberaler, der sich der Freiheit verpflichtet fühlte.

Seine Sprache war, ganz im Gegensatz zu dem bei den deutschen Philosophen häufig zu findenden dunklen Geraune, klar und verständlich. So charakterisierte ihn Karl Popper, der Begründer des Kritischen Rationalismus, in seinem Buch „Alles Leben ist Problemlösen“ mit den Worten: „Der Aufklärer spricht so einfach, wie es eben möglich ist. Er will verstanden werden. In dieser Hinsicht ist unter den Philosophen wohl Bertrand Russell unser unübertroffener Meister: Auch dann, wenn man ihm nicht beistimmen kann, muss man ihn bewundern. Er spricht immer klar, einfach und direkt.“

Beide Aspekte, der Liberalismus und die Neigung zu klarer Ausdrucksweise, haben sich in einem kurzen Text Russells vereinigt, auf den man hin und wieder aufmerksam machen sollte. Es handelt sich um die „Zehn Gebote eines Liberalen“, die 1951 in der New York Times am Ende des Artikels „Die beste Antwort auf Fanatismus: Liberalismus“ zum ersten Mal erschienen. Sie sind heute wichtiger denn je.

„Zehn Gebote eines Liberalen

  1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss!
  2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht!
  3. Versuche niemals, jemanden am selbständigen Denken zu hindern; es könnte dir gelingen!
  4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehepartner oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit der Autorität, denn ein Sieg der Autorität ist unrealistisch und illusionär!
  5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Fall auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind!
  6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich!
  7. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch!
  8. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung; denn wenn die Intelligenz so viel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im Widerspruch eine tiefere Zustimmung!
  9. Halte dich an die Wahrheit auch dann, wenn sie nicht ins Konzept passt! Denn es passt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie zu verbergen!
  10. Neide nicht denjenigen das Glück, die in einem Narrenparadiese leben; denn nur ein Narr kann das für ein Glück halten!“

So weit Russell. Ergänzen kann man die zehn Gebote noch durch eine Art Prinzip des rationalen Vorgehens, das der erwähnte Karl Popper geliefert hat. „Man könnte wohl die rationalistische Einstellung folgendermaßen ausdrücken: Vielleicht habe ich unrecht, und du hast recht, jedenfalls können wir beide hoffen, nach unserer Diskussion klarer zu sehen als vorher, und jedenfalls können wir ja beide voneinander lernen, solange wir nur nicht vergessen, dass es nicht darauf ankommt, wer recht behält, als vielmehr darauf, der Wahrheit näherzukommen. Nur zu diesem Zweck verteidigen wir uns in der Diskussion so gut wir eben können.“

Offenheit für Argumente, Akzeptieren und Verarbeiten von Widerspruch, Begrüßen der kritischen Diskussion, Orientierung an der Wahrheit – Ideen, die eigentlich selbstverständlich erscheinen, es aber schon längst nicht mehr sind. Würde man von Gestalten wie Friedrich Merz oder Lars Klingbeil erwarten, dass sie sich an die „Zehn Gebote eines Liberalen“ halten? Kann man die „rationalistische Einstellung“ Poppers bei Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks voraussetzen? Die Frage stellen heißt, sie zu verneinen. Freiheit, jedenfalls die Freiheit der Bürger, interessiert diese Leute nur am Rande, Vernunft und Rationalität haben die meisten von ihnen an der Garderobe abgegeben.

Es scheint deshalb nötig, das Verhalten der sogenannten Eliten einmal im Sinne Russells in Form einer Liste von Geboten zusammenzufassen. Dabei kann man sich an der ursprünglichen Russell-Liste orientieren, nur dass es sich nicht mehr um die „Zehn Gebote eines Liberalen“ handelt, sondern um die „Zehn Gebote eines Freundes unserer Demokratie“. Es sind die folgenden.

  1. Fühle dich deiner Sache stets gewiss, denn es ist die gute Sache!
  2. Verheimliche oder verfälsche Fakten, die nicht in dein moralisch hochstehendes Weltbild passen, und tue alles dafür, dass diese Fakten niemals ans Licht kommen!
  3. Unterdrücke selbstständiges Denken, wo du kannst, denn es ist gefährlich für unsere Demokratie!
  4. Wenn dir jemand widerspricht, versuche erst gar nicht, ihm mit Argumenten zu begegnen, die immer der Gefahr der Widerlegung ausgesetzt sind, sondern versuche, ihn mithilfe persönlicher Angriffe und Unterstellungen zum Schweigen zu bringen!
  5. Respektiere stets die Autoritäten, die auf der richtigen Seite stehen; alle anderen vermeintlichen Autoritäten wollen dich nur täuschen und vom rechten Weg abbringen!
  6. Unterdrücke mit aller Kraft Überzeugungen, die du für verderblich hältst; das Gemeinwesen kann keine abweichenden Überzeugungen vertragen!
  7. Vertritt niemals Meinungen, die von der herrschenden Linie abweichen! Zwar mögen sich früher die Meinungen in verschiedene Richtungen entwickelt haben, aber heute wissen wir mehr, und wer von unserer Meinung abweicht, ist mindestens rechts, vermutlich aber ein Nazi. 
  8. Freue dich niemals über Widerspruch und wertschätze passive Zustimmung, denn die Intelligenz der Falschen führt ins Verderben!
  9. Ignoriere die Wahrheit, vor allem dann, wenn sie nicht in das Konzept unserer Demokratie passt! In solchen Fällen gilt: Umso schlimmer für die Wahrheit!
  10. Schätze dich glücklich, im besten Deutschland zu leben, das wir je hatten! Nur Narren und sonstige Abweichler sind nicht in der Lage, das zu verstehen.

Auch Karl Poppers Prinzip des rationalen Vorgehens kann und muss man heute umschreiben zu einem Prinzip des Moralismus. „Man könnte wohl die moralistische Einstellung folgendermaßen ausdrücken: Es ist unmöglich, dass ich unrecht habe und du recht hast, denn ich vertrete die höhere Moral. Sicher können wir hoffen, nach unserer Diskussion klarer zu sehen als vorher, was aber bedeutet, dass du von deiner irrigen Meinung abrücken musst. Und wir können voneinander lernen: Du lernst von mir, wie die Dinge im Lichte der höheren Moral zu sehen sind, und ich lerne von dir, wie sehr man sich doch irren kann. Es kommt keineswegs darauf an, irgendeiner Wahrheit näher zu kommen, die moralisch betrachtet keine Rolle spielt, sondern nur darauf, dich auf den rechten Weg zu führen. Nur zu diesem Zweck können wir diskutieren.“

Die „Zehn Gebote eines Freundes unserer Demokratie“ und das „Prinzip des Moralismus“ dürften in etwa die Handlungsmaximen unseren politischen und journalistischen Höchstleister beschreiben, auch wenn sie selbst wohl kaum in der Lage sind, sie zu formulieren.

Es wird höchste Zeit, zu den ursprünglichen Ideen von Russell und Popper zurück zu kehren.

Denn unter dem zeitgeistkonformen Irrsinn haben wir lange genug gelitten.

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

Bild: Heinrich-Böll-Stiftung from Berlin, Deutschland, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

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