Erinnern Sie sich noch an Claas Relotius? Den Spiegel-Reporter, der einen Journalisten-Preis nach dem anderen einheimste? Und bei dem sich dann herausstellte, dass ein großer Teil seiner Geschichten frei erfunden war. Was ihn nicht hinderte, sich später als Opfer darzustellen.
An den Fall Relotius fühlen sich Kritiker erinnert durch eine neue, unglaubliche Geschichte bei der ARD. Dort präsentiert der gelernte Arzt, Autor und Corona-Aktivist Eckart von Hirschhausen, dessen Stiftung von Bill Gates 1,4 Millionen Euro kassierte, in einer Sendung über „Long Covid“ ein Kind, das angeblich Opfer dieser Krankheit sein soll. In einem Videobeitrag heißt es: „Olivia kann seit Wochen das Bett nicht mehr verlassen, sie kann nicht alleine stehen, nicht aufrecht sitzen, kein Glas Wasser halten“. Kinder seien besonders häufig mit Corona infiziert, so der Eindruck, den der Film vermittelt. Es ist eine Grusel-Geschichte, die den Zuschauern massive Furcht einjagt. Bei der jeder Angst um die eigenen Kinder bekommt. Das Problem ist nur: Die Geschichte ist hoch manipulativ, wie jetzt Recherchen von Bastian Barucker ergeben haben.
Es beginnt damit, dass Kinder nur sehr, sehr selten an Corona schwer erkranken. Was in dem Film mit keinem Wort erwähnt wird. Was Barucker alles herausgefunden hat, ist höchst spannend: Olivia, deren Schicksal in dem Film gezeigt wird, ist mit 12 Jahren vor (!) ihrer Corona-Infektion im Januar dieses Jahres geimpft worden. Von Hirschhausen verschweigt dies in seinem Beitrag. Warum? Herausfinden ließ sich das mit der Impfung, weil die in dem Film gezeigte Mutter Birte Müller ist. Sie ist freie Autorin, unter anderem für die taz. Und sie vermarktet seit Jahren ihren behinderten Sohn Willi. Müller schrieb Mitte März in der „taz“: „Trotzdem sind meine Gedanken woanders. Vor zehn Wochen ist meine Familie an Covid-19 erkrankt. Alle waren voll geimpft, keiner hatte einen schweren Verlauf.“
Die im Film gezeigte Olivia ist, wie die Mutter früher berichtete, „hyperkreativ“ und leidet unter dem „Prinzessinnen-Syndrom“. Als solches bezeichnet man den unbewussten Wunsch von Frauen, sich zu jeder Zeit beschützt und geborgen fühlen zu wollen. Die Wurzel dieses Verhaltens sieht Colette Dowling, die als Entdeckerin des Syndroms gilt, in der Erziehung sowie durch sozialen bzw. religiösen Druck.
Olivia hatte bereits früher schauspielerische Leistungen vor der Kamera absolviert. Barucker schreibt auf Twitter: „Olivia, die kindliche Protagonistin der ARD-Sendung zum Thema LongCovid, ist in der WDR Sendung „Kinder“ ebenfalls eine Protagonistin und dort mehrfach zu sehen. Sie erklärt dort Dinge und ist schauspielerisch tätig. Wie hat @DasErste die Menschen für ihre Doku ausgewählt?“
– was nun Kritiker zu dem Verdacht animiert, dass sie diese auch in dem Long-Covid-Beitrag an den Tag legt. Denn bereits am 2. August 2022 schrieb die Mutter in der „taz“ einen Beitrag, demzufolge es Olivia dank Blutwäsche „nach Monaten mit Long Covid“ wieder besser geht. Also lange vor der Ausstrahlung der Sendung von Hirschhausen. Sehen Sie selbst:
Die Sendung 'Hirschhausen und Long Covid' wurde wegen einer Programmänderung noch nicht ausgestrahlt. Die Sendung beginnt mit der herzzerreißenden Geschichte der armen Olivia.
Das lohnt sich mal näher anzuschauen.(Recherche by @BBarucker&TeamReality)https://t.co/sVdw35a05J pic.twitter.com/59fAqvQu3g
— TheRealTom™ 🌞 (@tomdabassman) September 25, 2022
Er habe die Pressestelle der ARD, den WDR, die Autorin des Videos, Kristin Siebert und Birte Müller, Olivias Mutter, schon am Samstag freundlich angeschrieben, um den Sachverhalt zu klären, schreibt Bastian Barucker auf Twitter: „Offene Fragen: Warum wurde Olivias Impfstatus nicht erwähnt? Von wann sind die WDR-Videos, die 2022 mit Olivia erschienen?“
Auch an von Hirschhausen stellt Barucker Fragen: Er „dokumentiert seine Corona-Infektion und beschreibt Gerinnungsstörungen, die er LongCovid zuschreibt. Sind Gerinnungsstörungen nicht auch eine Nebenwirkung der Impfung? Ist er nicht mehrfach geimpft?“
Der Fall Hirschhausen, so schreibt Barucker, zeige ein sehr großes Problem auf: „Der Berichterstattung über medizinische Themen ist im deutschen Pressekodex eine eigene Ziffer gewidmet. Nur scheint sich niemand mehr an diese Ziffer zu erinnern.“ Dem Thema hat Barucker einen ganzen Artikel auf seinem Blog gewidmet.
Die Liste der ARD-Skandale ist damit um eine besonders heftige Episode reicher. Wer auf diese Weise Panik schürt und Eltern mit Falschinformationen durch Unterlassen in Angst versetzt, handelt in meinen Augen nicht nur gegen jede journalistische Moral – sondern auch schlicht menschlich unterirdisch. Um eine Ideologie durchzusetzen und die eigene Weltsicht gegen die Faktenlage zu retten, wird hier ganz offen Propaganda betrieben. Denn selbst wenn die ganze Geschichte von Olivia wahr sein sollte – woran massivste Zweifel bestehen – werden die Zuschauer durch das Verschweigen entscheidender Fakten in die Irre geführt.
Besonders bitter ist, dass jeder diese Propaganda auch noch durch seine Gebühren zwangsfinanzieren muss.
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