Von Ekaterina Quehl.
Die ukrainische Stadt Mariupol befindet sich seit Anfang März unter der Blockade und Bombardierung seitens der russischen Armee. Mehrere Wochen lang befanden sich die Verteidiger von Mariupol, darunter die Soldaten des umstrittenen Regiments der ukrainischen Nationalgarde Asow, Soldaten der ukrainischen Marine, Grenzschutzbeamte und Polizisten sowie Zivilisten im Stahlwerk Asow, das von den russischen Truppen blockiert und bombardiert wurde. Die Zivilisten wurde Anfang Mai aus dem Werk evakuiert. Am 16. Mai begann die Evakuierung der ukrainischen Soldaten, die einige Tage andauerte.
Die Einheiten verteidigten Mariupol 82 Tage lang. Wie der ukrainische Generalstab erklärte, haben sie erfolgreich den Befehl ausgeführt, Russland daran zu hindern, seine Streitkräfte in andere Richtungen zu verlegen, und sie haben russische Pläne einer schnellen Eroberung von Saporoschje zerstört.
Die ukrainischen Medien berichten, Präsident Selenskij habe in internationalen Verhandlungen erreicht, dass seine Soldaten aus dem Stahlwerk gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht werden können; von einer Kapitulation oder Aufgabe aller Kräfte im Stahlwerk ist dort nicht die Rede. Die Kämpfer haben einen Befehl von der ukrainischen Militär-Führung erhalten, dass sie jedes Recht haben, das Stahlwerk zu verlassen, um am Leben zu bleiben, was sie demzufolge auch taten. Die verletzten Kämpfer wurden in die Stadt Nowoasowsk gebracht, wo ihnen medizinische Hilfe geleistet wird, wie ukrainische und russische Medien übereinstimmend berichten. Die restlichen Kämpfer wurden in den Ort Oleniwka in Gebiet Donezk gebracht, wo auf dem Territorium einer ehemaligen Kolonie ein regelrechtes „Filtrationsgefängnis“ eingerichtet wurde (Quelle hier und hier). Nach den ersten Berichten scheint sich die ukrainische Seite aktuell bewusst zurückzuhalten, um den Lauf der internationalen Verhandlungen für einen möglichen Austausch der Soldaten nicht zu beeinträchtigen.
Ganz anders die russischen Medien. Denen zufolge meldet Verteidigungsminister Sergej Schoigu die vollständige „Befreiung“ von Mariupol von Neonazisten und die Rettung der friedlichen Bevölkerung. Besonders fällt der aggressive Ton der Berichterstattung der russischen Medien auf – sie sprechen pauschal von Nazis, Neonazisten, Faschisten und Banditen und davon, dass das Regiment Asow den Status einer Terror-Organisation bekommen soll. Zudem fallen auch Widersprüche in der Berichterstattung der russischen Medien auf. So hat der russische Korrespondent Dmitri Steschin am 19. Mai morgens berichtet, dass der stellvertretende Asow-Kommandeur Swjatoslaw Palamar das Stahlwerk verlassen habe, er selbst hat aber auf seinem Telegram-Kanal am gleichen Tag abends ein Video mit der Bestätigung gepostet, dass er sich noch im Stahlwerk befinde. Am 20. Mai berichteten die ukrainischen Medien, dass sich noch Streitkräfte ihres Landes auf dem Werksgelände befinden, während der Verteidigungsminister Schoigu am 19. Mai von einer vollständigen Kapitulation spricht.
Bemerkenswert ist, dass viele deutschen Medien den Duktus der russischen Medien übernommen haben und über eine vollständige Kapitulation und eine Niederlage der ukrainischen Streitkräfte im Stahlwerk berichten.
Ich habe für Sie einige Auszüge aus Berichten aus beiden Ländern übersetzt, damit Sie sich selbst ein Bild von der Berichterstattung beider Länder machen können.
„Selenskij bestätigte, dass Asowstahl-Kämpfer in die Ukraine zurückgebracht werden müssen“, pravda.com.ua, 21.05.2022
Präsident Wolodymyr Selenskij sagte, dass die Verteidiger von Mariupol, die aus dem von den russischen Truppen blockierten Werk Asowstahl evakuiert wurden, im Rahmen eines Austauschverfahrens freigelassen werden müssen.
„Die Jungs haben vom Militär ein Signal erhalten, dass sie jedes Recht haben, rauszugehen und ihr Leben zu retten. Das Militärkommando hat all dies an alle weitergegeben, die in Asowstahl blockiert sind“, so Selenskij im Interview an die ukrainischen Journalisten.
„Dann hängt alles davon ab, dass die UNO, das Rote Kreuz und die Russische Föderation die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie (die Kämpfer) alle sicher sind und einen Austausch erwarten. Der heute vom Geheimdienst geführte Prozess wird abgeschlossen – die Entfernung, der Rückzug (der Verteidiger) und die Vorbereitungen für einen Dialog und dergleichen… Wir werden sie nach Hause bringen. Das müssen wir mit den Partnern machen, die Verantwortung übernommen haben.“, so Selenskij.
Details: Selenskij betonte, dass er „zehn- oder hundertmal“ die Staatschefs anderer Staaten gebeten habe, Waffen bereitzustellen, um zu helfen, die Stadt Mariupol und ihre Verteidiger von der Blockade zu lösen. Aber am Ende musste er sich auf die Diplomatie verlassen, weil es unmöglich war, die Blockade mit militärischen Mitteln zu lösen.
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Zum Zeitpunkt von Selenskijs Gespräch mit Journalisten war der Abzug der ukrainischen Verteidiger aus Asowstahl noch im Gange, aber am 20. Mai gab das russische Verteidigungsministerium bekannt, dass alle Kämpfer bereits abgezogen worden seien und dass es sich um 2.439 Personen handele, die die Russen als Gefangene betrachten.
„Die Russen sind unfähig, eine Niederlage einzugestehen“, nv.ua, 20.05.2022
„Russland kann nicht zugeben, dass die Evakuierung der Asow-Kämpfer aus Mariupol kein militärischer Triumph des Kremls ist, obwohl die Kreml-Propaganda verzweifelt versucht, dies so darzustellen, sagte Sergej Garmash, Hauptredakteur des Portals OstroW gegenüber dem ukrainischen Radio NV.
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Ich gehe davon aus, dass es Gerichtsverfahren geben wird. Da aber die Nachricht kam, dass das Rote Kreuz während der Evakuierung die persönlichen Daten von jedem Kämpfer erfasst hat, wird Russland dagegen nichts machen können. Sowohl das Rote Kreuz als auch andere internationale Organisationen, einschließlich der UNO, sowie die Regierungen befreundeter Länder werden nun das Schicksal unserer Verteidiger überwachen.
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Wir wissen, dass zumindest ihr Anführer, Denis Prokopenko, in Asowstahl bleibt. Das heißt, die Kommandanten sowohl des Regiments Asow als auch der Fallschirmjäger der 36. Brigade scheinen noch dort zu sein. Bestätigen können wir es aber nicht. Wir wissen, dass die Evakuierung in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai begann, nachdem bereits mehr als 264 Menschen evakuiert worden waren. Die Russen haben Asowstahl die ganze Nacht bombardiert während sich dort noch Menschen befanden. Inzwischen wissen wir aus dem Bericht des Roten Kreuzes, dass sowohl am 19. als auch am 20. Mai die Evakuierung weitergegangen ist. In diesem Fall verlassen wir uns auf diese Daten. Sie besagen, dass die Evakuierung noch andauert. Es ist daher davon auszugehen, dass es in Asowstahl wahrscheinlich noch viele Menschen gibt.
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Wir wissen, dass einige der Schwerverletzten am ersten Tag der Evakuierung, dem 16. Mai, in die medizinischen Einrichtungen von Nowoasovsk evakuiert wurden, das von der sogenannten „DNR“ kontrolliert wird. Wir wissen, dass nach Oleniwka evakuiert wurde, der ebenfalls von der „DNR“ kontrolliert wird.
„Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation berichtete, dass sich 771 Militante an einem Tag in Azowstal ergeben hätten“, Meldung der russischen Informationsagentur TASS, 19.05.2022
Über 770 Kämpfer der nationalistischen Einheit Asow haben sich am vergangenen Tag im Stahlwerk Asow in Mariupol ergeben, insgesamt haben bereits 1.730 Menschen ihre Waffen niedergelegt, wie Igor Konaschenkow, offizieller Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums, am Donnerstag gegenüber den Journalisten sagte.
„In den letzten 24 Stunden haben sich 771 Kämpfer der nationalistischen Einheit Asow im blockierten Werk Asowstahl in Mariupol ergeben. Insgesamt 1.730 Kämpfer haben sich seit dem 16. Mai ergeben, darunter 80 Verwundete“, sagte Konaschenkow.
Alle, die eine stationäre Behandlung benötigen, werden Hilfe in medizinischen Einrichtungen in Nowoasowsk und Donezk bekommen, sagte er. Am Dienstag gab das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation den Beginn der Kapitulation von Nationalisten und ukrainischen Soldaten bekannt, die im Stahlwerk Asowstahl blockiert waren.
Die Kämpfe um die Stadt dauerten fast zwei Monate und endeten mit dem Sieg der russischen und Donezker Streitkräfte. Am 21. April gratulierte der russische Präsident Wladimir Putin den Verteidigungsminister Sergej Schoigu zur vollständigen Befreiung von Mariupol. Gleichzeitig befahl das Staatsoberhaupt, den Angriff auf das Werk zu stoppen und ihn zu blockieren, „damit keine einzige Fliege durchfliegen kann“. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich nach Angaben des russischen Militärs auf dem Territorium des Werks mehr als 2.000 Kämpfer – etwa ein Drittel der ursprünglichen Garnison der Stadt.
Die Gesellschaft fordert ein Tribunal über die Militanten, die sich aus Asowstahl ergeben haben“, ria.ru, 21.05.2022
Das Oberhaupt der Volksrepublik Donezk, Denis Pushilin, sagte, dass ein Tribunal über die Kämpfer, die sich im Werk Asowstahl in Mariupol versteckten, unvermeidlich sei und dies eine öffentliche Forderung sei.
„Ich glaube, dass das Tribunal unvermeidlich ist: Gerechtigkeit muss herrschen. Dies ist die Forderung der einfachen Menschen, dies ist die Forderung der Gesellschaft, dies ist die Forderung des Teils der Weltgemeinschaft mit gesundem Menschenverstand“, sagte Pushilin während eines Treffens mit dem Leiter der LDPR-Fraktion (Liberal-Demokratische Partei Russlands) Leonid Slutsky in der Staatsduma.
Das russische Verteidigungsministerium berichtete am 20. Mai, dass das Territorium von Asowstahl vollständig befreit worden sei, „die vollständige Kontrolle über die unterirdischen Einrichtungen des Werks, in denen sich die Kämpfer versteckten, übernahmen nun die russischen Streitkräfte“. Insgesamt haben nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums seit dem 16. Mai 2.439 Nazis des Regiments Asow (dessen Kämpfer in Russland strafrechtlich verfolgt wurden) und des ukrainischen Militärs ihre Waffen niedergelegt und sich ergeben; sie wurden auf dem Territorium des Werks etwa einen Monat lang von russischen Streitkräften blockiert.
Russland kündigte die vollständige Befreiung des Territoriums von Asowstahl an“, Lenta.ru, 20.05.2022
Der offizielle Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konaschenkov, kündigte die vollständige Befreiung des Territoriums des Werks Asowstahl in Mariupol an. Wie er RIA Novosti mitgeteilt hat, ist „das Territorium des Stahlwerks „Asowstahl“ in Mariupol… vollständig befreit“.
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Zuvor hatte der Kommandeur des Regiments Denis Prokopenko das Territorium Asowstahl verlassen und sich ergeben. Nach seinen Angaben hat die oberste militärische Führung der Ukraine den Befehl gegeben, die Verteidigung von Mariupol zu stoppen. Der Vertreter des Verteidigungsministeriums sagte, dass das russische Militär den Kommandanten des Regiments Asow, der sich ergeben hatte, in einem gepanzerten Fahrzeug aus dem Territorium des Werks herausholen musste, um mögliche Angriffe der friedlichen Bevölkerung gegen ihn zu verhindern.
Übergabe von Soldaten der Streitkräfte der Ukraine,1tv.ru, 21.05.2022
Am 19. Mai, sagte Konaschenkov, dass sich 771 ukrainische Soldaten im Asowstahl in Mariupol ergeben hätten. Er fügte hinzu, dass sich seit Montag, dem 16. Mai, 1.730 Menschen im Werk ergeben hätten, darunter 80 Verwundete. Soldaten der Streitkräfte der Ukraine (AFU), die Hilfe benötigen, wurden in medizinische Einrichtungen in Nowoasowsk und Donezk geschickt.
Unter denen, die sich ergaben, war der Kommandeur der 36. ukrainischen Marinebrigade Sergey Volynsky mit dem Spitznamen Volyn.
„Sehr frisch aussehend, gab er seine Waffen ab, seine Sachen wurden kontrolliert – im Allgemeinen durchlief er die Standardprozedur, bevor er in den Bus geladen wurde. Der Prozess der bedingungslosen Evakuierung in die Gefangenschaft verläuft planmäßig“, so die Korrespondentin des Ersten Kanal Irina Kuksenkowa.
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Wladimir Dschabarow, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für internationale Angelegenheiten des Föderationsrates, wies zuvor darauf hin, dass die Führung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk (DNR und LNR) über die Zukunft der gefangenen ukrainischen Militärs entscheiden sollte.
Der Politiker drückte seine Zuversicht aus, dass es keinen Austausch ukrainischer Militärs geben sollte, sie sollten rechtlich bestraft werden.
„Jetzt stellt sich die Frage des Austauschs, aber meiner Meinung nach wird es irrational sein, sie auszutauschen. Auf jeden Fall sollte es ein Gericht geben, es sollte nicht gelyncht werden“. Nach dem Recht der „DNR“ und der „LNR“ werden die Gefangenen gemäß den Rechtsbestimmungen dieser Republiken zu bestimmten Strafen verurteilt.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Text: eq
Übersetzung: Ekaterina Quehl
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