„Wir nehmen uns das Recht des Stärkeren“ Ein russischer Blick auf den Krieg

Von Ekaterina Quehl
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Wladimir Pastuchow ist Politologe und Jurist und ist Senior Fellow des University College of London. Er war in einer beratender Funktion für das Verfassungsgericht Russlands tätig. Er schrieb regelmäßig für die Nowaja Gaseta – eine der letzten kritischen Zeitungen in Russland, die massiv unter Beschuss stand und kurz nach Kriegsbeginn schließen musste und für die auch Boris Reitschuster tätig ist. Pastuchow war regelmäßig Gast beim regierungskritischen Sender Echo Moskau und gibt immer noch regelmäßig Interviews, unter anderem zum Krieg in der Ukraine, auf Ersatzkanälen des Senders nach seiner Schließung im März 2022. Pastuchow schrieb mehrere Bücher und verfasste mehrere wissenschaftliche Artikel zu verfassungsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Fragen. Für mich ist er einer der klügsten Köpfe in Sachen Russland, seine Einschätzungen halte ich für überaus interessant. Deshalb habe ich – als gebürtige Russin – diesen Text von ihm für Sie übersetzt, der auf seinem Telegram-Kanal auf Russisch erschienen ist. Aus meiner Sicht stellt der Text eine etwas andere Perspektive auf die Rolle der Kreml-Propaganda im Inland dar.

Mein Sohn stellte mir neulich mit seinem für ihn üblichen gesunden Zynismus eine sehr pikante Frage: Würde ein größter Teil der russischen Bevölkerung ihre Einstellung zum Krieg ändern, wenn die Begründung für diesen Krieg ehrlich und direkt wäre, ohne den Schnickschnack mit den durch die Ukraine rennenden Banderow-Anhängern, mit Anti-Russland-Parolen oder mit sogenannter „Entnazifizierung“ und „den letzten Kampf des Guten gegen das Böse in einem Glas Wasser“?

Hätte sich etwas geändert, wenn der Präsident Russlands am 21. Februar 2022 alles so gesagt hätte, wie es ist: Wir sind ein großes imperiales Volk, aber wir haben einen Teil unserer Kolonien während der Krisen-Jahre verloren, in denen nur die Faulen uns nicht wie ein Fußabtreter benutzt haben. Insbesondere kroch zur Seite und versuchte, zu Konkurrenten hinüberzulaufen die Ukraine – der wertvollste Stein in unserer Zaren-Krone. Wir haben versucht, mit Amerika und Europa darum zu konkurrieren, haben aber verloren. Jetzt sind wir stark, die Ukraine ist schwach, Amerika und Europa sind nicht bereit. Das ist unsere letzte Chance. Jetzt oder nie. In unserem Kampf mit dem Westen brauchen wir diesen Halt und wir können ihn haben. Das bedeutet, dass wir das Recht nehmen, diesen Halt zu holen. Und so oder so ähnlich weiter.

Und ganz ehrlich, ich denke, es hätte sich absolut nichts geändert. Und die Mehrheit in Russland würde, genauso wie heute, den Krieg unterstützen. Nur nicht scheinheilig weinerlich, nach dem Motto „Wir retten den Donbass und die restliche Welt vor den Nazis“, sondern zynisch und hart „Wir nehmen uns das Recht des Stärkeren“. Ich denke, dass die Bevölkerung schon alles wunderbar versteht. Die Billigung des Krieges hat einen Doppel-Charakter: Oben ist eine dicke, dicke Schicht aus einer Himbeer-Grütze über ukrainische Nazis und einen epischen Kampf mit Amerika. Und darunter – eine harte Kruste eines imperialen Keks, wo alle Dinge beim eigenen Namen genannt werden, wo alle genau wissen, dass es keine Nazis gibt. Aber es spielt keine Rolle mehr. Deshalb glaube ich nicht wirklich, dass sich der russische Falke sofort in eine Taube verwandeln wird, wenn man die Kreml-Propaganda einfach ausschaltet. Es ist nicht nötig, die Russen zu Idioten zu machen – sie wissen schon, warum sie diesen Krieg brauchen.

Was soll dann dieser ganze Zirkus mit Pferden? Warum kann man nicht direkt sagen, dass wir auf die eine oder andere Weise unsere historischen Territorien zurückerobern wollen? Das sagen übrigens auch viele, aber eben inoffiziell. Mir scheint, dass es hier nicht um den Wunsch geht, den Krieg zu unterstützen, der bereits im Überfluss vorhanden ist. Wenn die Ziele rational genannt werden, kann der Preis und der Aufwand ebenfalls rational berechnet werden. Sinngemäß, okay Google, lass uns „gegen die Ukraine kämpfen“, aber was wird uns das kosten? Ist es das wert? Und wer trägt die Verantwortung, wenn es nicht funktioniert? Eine rationale Begründung für den Krieg bedeutet unvermeidlich die Verantwortung für die Handlungen. Aber eine irrationale Erklärung impliziert eben keine. Wer wird einen schon zur Verantwortung ziehen, wenn das Ziel des Krieges „heilig“ ist.

Wie so oft im Leben ist Heuchelei schlimmer und gefährlicher als Zynismus. Ein zynischer Krieg kann aus noch zynischeren Gründen beendet werden. Heuchlerische Kriege können ewig geführt werden.

DAVID
Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Bild: Shutterstock
Text: eq/Gast
Übersetzung: Ekaterina Quehl

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