Ein Gastbeitrag von Gunter Weißgerber, Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90, Mitbegründer der Ost-SPD, Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages 1990-2009
Trend zur Briefwahl: Verfassungsproblem?
Im Zuge des menschengemachten Pandemieregimes bekommt die Briefwahl größere Bedeutung. Zum Schutz der Bevölkerung vor Ansteckung raten viele Politiker zur Briefwahl statt zur Stimmabgabe am Wahltag im Wahllokal. Die Wahlkabine gerät damit in Vergessenheit.
In der DDR wurde mit Argusaugen beobachtet, wer auch nur die Wahlkabine suchte, die ohnehin als Wink mit dem Zaunpfahl mit ihrer Öffnung an die Wand gedrückt war, und in der Bundesrepublik des Kabinetts Merkel IV gilt als Anstecker, zu anderen Zeiten liebevoll als Schädling betrachtet, wer im Wahllokal sein Wahlrecht in Anspruch nimmt. Eine gefährliche Entwicklung.
Dabei ist es erst drei Jahrzehnte her, dass zumindest im Osten der Republik jedermann wusste: Freie und geheime Wahlen trennen Diktatur von Demokratie. Nur wer seine Stimme unbeobachtet und damit angstfrei abgibt, gibt eine ehrliche Stimme ab und trägt zu einem ehrlichen Wahlergebnis bei. Das demokratische Gemeinwesen lebt vom Vertrauen seiner Bürger. Freie und geheime Wahlen sind Teil des Grundvertrauens in die res publica.
- Nicht erst seit dem Herbst 2015 ist das Grundvertrauen in der Bundesrepublik schwer gestört
- (Schein-)Moral wird über die Regeln gestellt
- die Institutionen, sprich die Gewaltenteilung, erleben einen nie gekannten Ansehens- und Autoritätsverlust
- die Bundeskanzlerin lässt Wahlen rückgängig machen
- der Bundestag lässt Politik machen
- 2015 hieß es, EU-Außen- und deutsche Binnengrenzen sind nicht zu sichern, und unter Corona-Bedingungen verfolgt uns heute dagegen der Staat bis aufs Klo und beweist täglich, dass er sichern und durchgreifen kann – wenn er will (sic).
- Diese Reihe ist viel länger, ich höre an der Stelle mit Aufzählungen auf und komme zum Wahlrecht, welches nicht mehr systemrelevant zu sein scheint – passend zum Canceln von Ministerpräsidentenwahlen in Landesparlamenten.
Vorab sage ich ausdrücklich nicht, dass Briefwahlen nicht demokratisch sind. Im Einzelfall machen sie Sinn. Als Einzelfall vermögen sie Wahlergebnisse nicht eklatant zu verfälschen.
Mir geht es um den Kern von geheimen Wahlen. Also Wahlen, auf denen unser politisches System basiert. Meine Arbeitsthese lautet: „Mit dem prozentualen Anstieg von Briefwählern wandeln sich unsere geheimen Wahlen in halboffene Wahlen. Das Wahlgeheimnis wandert aus dem politischen Leben in die Belletristik ab. Die Republik wird eine andere.“ Sie wird demokraturischer.
Übertreibe ich? Zu Hause, im Privaten, sprechen die Familienmitglieder auch über Politik und Wahlen. In vielen Fällen kommt es zu faktisch gemeinsamen Positionen und beinahe Wahlabsprachen. Das Leben ist so. Auch unter Freunden.
Im Ergebnis werden mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Wahlzettel informell ähnlich bekreuzt. Dabei schwingen innerfamiliäre und innerfreundschaftliche Loyalitäten zwangsläufig mit. Schlicht ausgedrückt: Klein-Erna wird zu Hause wahrscheinlich, wie mit Klein-Fritzchen besprochen, den Wahlzettel abarbeiten. Eine mehr oder weniger offene Wahl, Klein-Erna tut Klein-Fritzchen nicht weh und muss sich nicht vor ihm rechtfertigen. Für Klein-Fritzchen gilt dasselbe. Friede, Freude, Eierkuchen, wirklich wichtig sind Wahlergebnisse wohl nicht.
Gehen Klein-Erna und Klein-Fritzchen dagegen am Wahltag ins Wahllokal und dort mutter- und vaterseelenalleine auf sich gestellt in die Wahlkabine, dann kann frisch und munter und der eigenen Nase nach angekreuzt werden. Keine Beobachtung, keine Kontrolle, einfach nur Demokratie.
Ich bin kein Verfassungsrechtler, habe meinen Erfahrungsschatz mit unfreien DDR-Wahlen und freien Deutschlandwahlen und besitze noch immer meinen politischen Instinkt. Dieser Instinkt lässt mich eindringlich vor der Zunahme des Briefwahlanteils warnen. Lassen wir es nicht zu, dass freie und geheime Wahlen an Wert verlieren!
Die Wahlkabine ist der zentrale Ort der Demokratie. Nicht der Küchen- oder Stammtisch, das Kaffeekränzchen, die Sympathisantengruppe oder ein Parteilehrjahr.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de. Dieser Beitrag ist auch beim GlobKult Magazin erschienen.
Bild: Jan von nebenan/Shutterstock
Text: Gast
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