Der große und entscheidende Vorteil der Demokratie ist, dass sie auf dem Prinzip der Konkurrenz beruht: Anders als etwa in einer Monarchie oder in einer Autokratie muss ein Regierender, wenn er zu sehr an den Bürgern vorbei regiert oder versagt, damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden: Durch seine Abwahl. Oder gar durch eine juristische Aufarbeitung seiner Fehler. So zumindest sieht es die Theorie vor.
Berlin tritt seit vielen Jahren den Gegenbeweis an. Denn zum Funktionieren der Demokratie und des Konkurrenz-Prinzips gehört, dass die Bürger sich als reife Demokraten erweisen und Regierende, die versagen, auch wirklich abwählen. Nicht so in der Hauptstadt. Dort sendet der Souverän, das Volk, seit Jahren die Botschaft aus: Rot-rot-grün kann verbocken, was immer es will – es wird trotzdem wiedergewählt. Die Liste des politischen Versagens in der Hauptstadt ist so lang, dass sie den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.
Nur ein paar Beispiele: Die Bürgerämter der Hauptstadt arbeiten so schlecht, dass man oft monatelang auf einen Termin warten muss – ob für die Ummeldung nach einem Umzug, für die man laut Gesetz nur zwei Wochen Zeit hat, oder für einen neuen Pass. Seit Jahren verspricht Rotgrün Abhilfe. Und seit Jahren bleibt sie aus. Ein weiteres Beispiel: Die Wahlen. Die hat Berlin gründlich vergeigt. Weshalb die Berliner nun erneut an die Wahlurnen müssen. Aller Voraussicht nach sogar zweimal. Verantwortung dafür? Fehlanzeige! Senator Andreas Geisel, früher SED, heute SPD, denkt offenbar nicht mal an einen Rücktritt. Und seine Partei auch nicht.
Wozu auch? Geht doch überall alles schief, nicht nur bei Geisel!
Die Zustände in den Schulen sind desolat – baulich wie pädagogisch. Toilettenpapier müssen die Schuler schon mal selbst mitbringen. Staus erzeugt die fahrradbesessene Stadtregierung absichtlich und mit Inbrunst. Der öffentliche Dienst ist nur noch bei seinen Krankenständen rekordverdächtig – Beamte und Angestellte flüchten vor der bitteren Realität in Krankschreibungen. Wer es sich leisten kann, fährt abends nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln – weil sie nicht mehr sicher sind. Auch tagsüber empfinden die Zustände in Bus und U-Bahn viele als Zumutung.
Selbst die Rettungsdienste in der Hauptstadt sind chronisch überlastet. Das Versagen des rot-rot-grünen Senats kostet also nicht nur Zeit und Nerven – es kann auch an die Gesundheit gehen und im schlimmsten Fall Leben kosten.
Und wie reagieren die Wähler in der Hauptstadt? Aktuellen Meinungsumfragen zufolge wird eine Mehrheit genau jene wieder wählen, die für das Dauer-Desaster verantwortlich sind.
Wie kann das sein? Das frage ich mich auch. Demokratie-Unreife wäre eine mögliche Antwort. Aufgrund von tief sitzender Ideologie. Denn Masochismus kann es ja kaum sein. Oder doch? Leser schrieben mir, ich hätte Verblödung als mögliche Ursache vergessen – weswegen sie hier ergänzt sei.
Eine interessante Erklärung liefert der Wahl-Berliner Ulli Kulke auf Achgut: „Es ist leider so: Milieubedingt könnten in der Stadt sich sehr, sehr viele nicht mehr im Spiegel anschauen, wenn sie was anderes als Links, SPD oder Grün wählen würden. Es wäre für sie Verrat, Verlassen ihres Lebenszusammenhangs, abhauen aus der Familie, Scheidung, schlaflose Nächte, Todsünde, das volle Programm.“
Heerscharen von Beauftragten
Kulke, der früher auch für das „Zeit-Magazin“ und das „SZ-Magazin“ schrieb, sieht daneben noch eine Art Bestechung am Werk – die er höflich umschreibt: „Eines immerhin funktioniert ja auch: Der Senat bedient bestens seine Klientel, frönt mit vollen Händen – obwohl sie tatsächlich leer sind – der Umverteilung auf Landesebene, subventioniert auf Pump, alimentiert, fördert jede Menge NGOs und Vereine und lässt sich von denen in politisch-planerischen Sandkastenspielen und Wolkenkuckucksheimen gegen Bares teuer beraten, beschäftigt Heerscharen von Beauftragten. Wer laut genug ‘Klima‘ oder ‘Gender‘ ruft, hat schon einen Vertrag.“
Das praktische dabei: Bezahlen für das Theater müssen dank Länderfinanzausgleich die Bürger in anderen, funktionierenden Bundesländern. Vor allem die Bayern. Das Resultat: Im Freistaat müssen Eltern etwa für Kindergarten-Betreuung bezahlen, die Berliner Eltern dank der Steuergelder aus Bayern kostenlos erhalten.
Berlin lebt also auf Kosten anderer. Vielleicht ist das der unterbewusste Deal zwischen Wählern und Gewählten? Bloß nicht erwachsen werden, bloß keine Verantwortung übernehmen – und sich die eigene Infantilität von den anderen bezahlen lassen?
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