Leser aus aller Welt schicken mir ihre Erfahrungsberichte, wie sie vor Ort die Corona-Politik erfahren. Hier ein Bericht aus Frankreich:
Wir sind eine deutsche Familie, die seit Jahren einen Wohnsitz in Frankreich in den lothringischen Vogesen besitzt. Es ist eine bergige Gegend, kleine weit verteilte Dörfer und alte historische Städte. Wirtschaftlich nicht stark, die Menschen leiden seit Jahrzehnten an Abwanderung der Jugend in die Ballungszentren und dem Verfall der Industrie. Aber es sind herzliche und gute Menschen und all die Zeit, die wir dort sind, erleben wir ein offenes und lebensbejahendes Leben, auch unter nicht prosperierenden Verhältnissen. Es ist immer wieder eine Freude, zu erleben, wie unvoreingenommen und freundlich man auch als Fremder aufgenommen wird. Der Umgang mit Corona und den Maßnahmen in Frankreich ist dabei auf eine spezielle Weise ganz anders als das, was wir hierzulande erleben.
Corona hat in Frankreich zu den weltweit härtesten Maßnahmen geführt, die wir kennen. Während der strengsten Phase durften Menschen ihre Häuser nur maximal eine Stunde im Umkreis eines Kilometers verlassen. Fahrten waren nur zur Arbeit, zum Arzt und Einkaufen, oder um sein Kind zur Schule zu fahren bzw. es abzuholen, erlaubt. Das war nur mit Mitnahme eines selbst ausgefüllten und quasi eidesstattlich versicherten Sonderformulars möglich. Die Sanktionen wurden uns als hart geschildert: Beim ersten Vergessen eine Verwarnung, beim zweiten 135 und beim dritten 1000 Euro Strafe.
Anders als bei den Gelbwesten-Protesten waren wir überrascht, dass die rebellischen Franzosen gerade nicht rebellierten. In Gesprächen mit Freunden wurde vieles klar. Sie haben Angst. Angst vor den Strafen, Angst vor der Krankheit, Angst vor der Erfahrung, dass im eigenen Familienkreis Todesfälle bekannt waren. Denn die Todeszahlen in Frankreich sind hoch, die Familienverbände reichen meist weiter als bei uns und damit gibt es oft einen Verstorbenen im eigenen Umfeld. Und doch erleben wir alltägliche Lebensfreude vor allem im Umgang miteinander.
Die Franzosen halten die Maßnahmen ein, machen sie sich aber nicht zu eigen. Außerhalb von Paris weiß man, dass der Élysée-Palast nur sich selbst kennt und seine Standards als gottgegeben und allgemein gültig versteht. Natürlich kann man in Paris ohne Probleme innerhalb eines Kilometers vieles erreichen. Aber dass es auch ein weites Land außerhalb der Metropole gibt, passt nicht ins egozentrisch isolierte Weltbild der Regierung. Dort hat die entscheidende Politik – so wie bei uns – schon lange den Kontakt zur Realität ihrer Bürger verloren. Die Bürger wissen dies, sie folgen pragmatisch, aber sie nehmen es meist schon lange nicht mehr ernst. Man weiß auch, dass die Überlastungen der Krankenhäuser und die Toten nicht nur Opfer des Virus, sondern vor allem des seit vielen Jahren kontinuierlich fehllaufenden Ökonomisierens und Herunterfahrens des Gesundheitssystems sind. So wie in England, Italien, Spanien etc.
Und doch fühlen wir uns in Frankreich so viel wohler als hier, wenn es um Corona geht. Dies kann ich am besten an drei Erlebnissen schildern:
Ich darf auf ärztliche Anweisung keine Maske tragen, weil ich innerhalb kürzester Zeit massive bis zu lebensbedrohende Belastungen der oberen Atemwege bekomme. Die Attestfrage ist eindeutig geklärt und sogar behördlich bestätigt. In Frankreich gibt es jedoch die gesundheitliche Befreiung von der Maskenpflicht in Läden nicht, ein Betroffener muss zu Hause bleiben und sich von anderen versorgen lassen. Und doch, als ich in einem großen Markt die Leitung fragte, ob ich denn die Maske nur pro forma aufsetzen könne, so dass das Atmen nicht behindert werde, da führte sie ein gemeinsames Gespräch mit der Ladensicherheit und mir wurde gesagt, dass dies in meinem Entscheidungsbereich läge. Auf meinen Hinweis, mein Attest sei nicht in Französisch verfasst und ob ich es übersetzen lassen solle, hieß es entspannt, dass ich wohl selbst wisse, was für mich angemessen sei oder nicht. Sie brauchen keinen Bescheid, sie glauben mir. Dies ist mein erlebtes Beispiel für den Umgang der Franzosen mit den Deutschen.
Das andere Erlebnis war der Umgang der Deutschen mit den Franzosen. Während des harten Lockdowns durften die Franzosen in Frankreich nicht zur Arbeit, aber im Grenzbereich zu ihren deutschen Arbeitgebern. Manche Firmen führten rein französische Schichten ein, mit Desinfektion der Arbeitsplätze in den Schichtwechseln. Die Franzosen waren dankbar, nicht zu Hause versauern zu müssen. Und doch regnete es Anzeigen und Denunziationen bei der Polizei. Von wem? Von besorgten Deutschen, die die französischen Kennzeichen an der deutschen Tankstelle oder dem deutschen Parkplatz nicht ertragen konnten – oder wollten. Das war der Umgang der Deutschen mit den Franzosen. Wir haben viel kaputt gemacht in unseren Grenzbereichen, bei unseren Nachbarn und Freunden.
Wie ist nun der Umgang der Franzosen untereinander? Ich bin in Frankreich auch in einem Sportverein, der, weil er nicht überdachte Sportstätten hat, auch in den mittelharten Phasen der Maskenpflicht offen bleiben durfte. Bei diesem Sport bestand der Aufruf zum Maskentragen aber wegen der individuellen Unfallgefahr durch die Sichteinschränkung, nicht der Zwang. Und bei jedem meiner Besuche trugen die Einen ihre Maske, die Anderen nicht. Maskenträger redeten und scherzten entspannt mit Maskenlosen, Maskenlose lachten und freuten sich zusammen mit den Maskenträgern. Man stand gemischt zusammen, Mensch bei Mensch und nicht Fraktion bei Fraktion. In den Läden, wie auch auf den Straßen und beim Wandern erlebte ich eines nicht, was in Deutschland mein täglicher Standard ist:
Keine Belehrungen des Anderen.
Keine bösen Blicke auf den Anderen.
Kein panisches Ausweichen oder aggressives Zusteuern auf den Anderen, weil er erkennbar nicht die eigene Ansicht und Handlungsweise vertritt und teilt, egal in welche Richtung.
Natürlich sind Franzosen keine Heiligen und in gemeinsamen Gesprächen wurden mir auch Schauergeschichten der Anfeindung und Denunziation erzählt. Und doch haben sich auch Freunde anderer Meinung unsere Ansichten angehört und wir deren, ohne dass ein Groll entstand. Der Wein schmeckte weiter vorzüglich – gemeinsam.
Ich habe nicht das Gefühl, dass die Coronapolitik in Frankreich es geschafft hat, die Menschen zu zerknirschten Wesen zu mutieren und in zwei unversöhnliche Lager zu spalten. Nicht so wie bei uns, aber dazu fehlen den Franzosen vielleicht zwei grundlegende deutsche Tugenden: Der Regierung und den Medien unreflektiert zu glauben – das Hoheitsmisstrauen ist altes Kulturgut unserer Nachbarn – und die feste Überzeugung, die eigene Wahrheit sei die einzig richtige. Außerdem ist es nicht nur legitim, sondern unsere Pflicht, das eigene Recht zu verteidigen und eben nicht, das „korrekte“ Verhalten allen anderen Unwissenden und Widerwilligen mit beliebigen Mitteln aufzuzwingen.
Dazu mangelt es in Frankreich an einer grundlegenden Ressource: Die vielen Millionen selbsternannten Ersatzpolizisten, die von ihrem Fenster aus pflichtbewusst und selbstlos sicherstellen, dass in der Warteschlange auf der Straße vor dem Bäckerladen gegenüber der 1,5 m Abstand zwischen Wartenden auch ganz sicher eingehalten wird, und wenn nicht, zum Schutze aller, sofort die Ordnungskräfte in Kenntnis setzen.
Letztendlich hat das aber auch einen großen Vorteil. Wir kommen nicht auf die dumme Idee gegenüber den uns auferlegten Maßnahmen misstrauisch, unruhig oder unangenehm zu werden. Wir sind genug mit uns selbst beschäftigt.
Ich persönlich freue mich sehr auf die nächste Zeit in Frankreich. Endlich wieder leben und leben lassen.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Text: Gast
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