Ein Gastbeitrag von Pascal Lottaz
Ich bin Schweizer, lebe seit 2014 permanent in Tokio, wo ich an einer Universität zur Geschichte des 2. Weltkrieges forsche und lehre. Die Pandemieangst ging hier früh los, mit den ersten Fällen Anfang Januar. Bald wurden die Schulen geschlossen, und ein Aufruf zum Homeoffice hat den berüchtigten japanischen Büroalltag auf den Kopf gestellt (was aber, ehrlich gesagt, Work-Life-Balance-technisch nicht nur Nachteile hatte). Aber dann ist etwas Erstaunliches passiert. Um Ende April herum hat die Spirale aufgehört, sich zu drehen.
Der “state of emergency”, der ausgerufen wurde, hatte zwar zur Folge, dass in der ersten und auch der jetzigen, dritten Welle (interessanterweise nicht in der zweiten, im Sommer) die Lokalregierungen die Restaurants dazu aufforderten, um 20 Uhr abends zu schließen, und die Regierung hat Masken verteilen lassen und eine Informationskampagne zur Vorbeugung gemacht. Dazu gab es dann noch ca. 800 Euro pro Einwohner aufs Bankkonto, und andere Direktzahlungen an Unternehmen und Freiberufler. Aber im Großen und Ganzen war’s das dann auch schon.
Es gab und gibt keine Gesetze, um Masken durchzusetzen. Ich kann sogar im Zug die Maske nicht tragen, ohne dafür zurechtgewiesen oder gar bestraft zu werden. Neulich habe ich meine Maske vergessen, als ich einkaufen ging. Daraufhin bin ich seit langem wieder mal ohne in den Laden. Man fühlt sich zwar auch hier merkwürdig, aber ich wurde weder aufgefordert eine Maske aufzusetzen, noch hat man mich sonst behelligt. Ich wurde einfach bedient.
Im Sommer hat die Regierung sogar eine Kampagne gefahren, die “go to campaign”, welche bis zu 50 Prozent von privatem Tourismus im Land gesponsert hat, Übernachtungen und Flüge. Als in Mitteleuropa sogar Demonstrationsverbot galt, hat hier die Regierung die Bevölkerung aktiv zur Reanimation des Tourismus bewegt, der ja auch wegen der verschobenen Olympiade sehr gelitten hat, wie überall. Die zweite Welle, wie gesagt, kam und ging wieder während dieser Zeit. Jetzt, in der dritten Welle, wurde die Kampagne ausgesetzt, es gibt aber weiterhin keine Reisebeschränkungen im Land.
Auch die Einhaltung der Sperrstunde ist immer noch Sache der Betriebe. Wer öffnen will, der kann. Druck wird sozial zwar schon ausgeübt und die meisten Lokale schließen brav, aber das ist weit weg von polizeilichen Maßnahmen wie in Deutschland oder in der Schweiz. Auch hat die Regierung keine “Denunziationsnummer” eingeführt und nicht dazu aufgerufen, Betriebe zu melden. Es gibt auch keine Verbote von Menschenansammlungen oder irgendein gesetzliches Limit betreffend privater Feiern. Bis am Abend um 20 Uhr kann ich mit so vielen Leuten in ein Restaurant gehen wie ich will. Und die Nachtklubs, die sind jetzt einfach zwischen 15 Uhr und 20 Uhr offen. Auch Badehäuser sind offen (die meisten bis 23 Uhr abends), so wie Schwimmbäder, Friseure, Massagesalons, Yoga-Studios und andere öffentliche Einrichtungen.
Natürlich haben Institutionen wie Unis und Betriebe ihre eigenen Maßnahmen eingeleitet. Das Leben hat sich auch hier verändert, und der Respekt vor dem Virus ist in der Bevölkerung klar spürbar. Andererseits erinnern mich die Zustände hier viel mehr an das, was ich aus Schweden höre, als was ich von zu Hause, in der Schweiz sehe. Und raten Sie mal, wie die Zahlen in Japan ausschauen? Ansteckungen sind hoch, Todesfälle niedrig bei etwas über 6000 Toten (Februar 2021) seit Beginn der Pandemie – bei einem 120-Millionen-Land. Was übrigens auch Ausdruck des hervorragenden und flächendeckenden Gesundheitswesens hier ist. Am 23. Februar ist dazu noch veröffentlicht worden, dass Japan im Jahr 2020 über 9000 weniger Tote zu vermelden hatte als das Jahr zuvor. Die Todesrate liegt so niedrig wie seit 11 Jahren nicht mehr! Japan hatte eine Untersterblichkeit im Corona-Jahr!
Ich könnte noch viel mehr berichten, aber was ich rüberbringen möchte, ist simpel: Wer behauptet, dass nur ein Lockdown Deutschland oder irgendein Land vor dem Kollaps bewahrt, der verschließt die Augen vor den Beispielen, die das Gegenteil zeigen. Es geht auch anders, und zwar nicht nur in Schweden. Ich hoffe auf eine baldige Besinnung darauf, dass keine Maßnahme “alternativlos” ist. Das ist mittlerweile auch empirisch einfach Fakt.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Pascal Lottaz lebt seit 2014 in Tokio und forscht dort als Assistant Professor an einer Universität zur Geschichte des 2. Weltkrieges.
Bilder: privat / Ned Snowman/Shutterstock
Text: Gast
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