Ein Gastbeitrag von Boris Blaha
Ein Bremer Gericht entschied nun: Man darf Bundestagsabgeordnete als Verfassungsfeinde bezeichnen. Ich persönlich füge hinzu: Man darf nicht nur, man sollte. Doch der Reihe nach. Am 18.11.2020 fand im Bundestag die namentliche Abstimmung zum Dritten „Pandemie-Ermächtigungsgesetz“ statt. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits ausreichend Informationen frei verfügbar, um sich selbstständig eine sachlich fundierte, eigene Meinung zu bilden. Mehrfach hintereinander eine „Epidemische Lage nationaler Tragweite“ zu beschließen, die nur in der massenmedial erzeugten Fantasie existierte, in der Welt der Tatsachen aber nicht aufzufinden war, wird in die Annalen der an Ruhmestaten so reichen deutschen Parlamentsgeschichte eingehen.
Wozu sich ausgerechnet ein Land wie Deutschland ein Parlament mit mehr als siebenhundert reichlich alimentierten Abgeordneten leistet, wenn die Mehrheit derselben zwischen Gerücht und Tatsache nicht zu unterscheiden weiß und sich seiner wichtigsten Aufgabe – der Kontrolle der Regierungsarbeit – verweigert, wird man Leuten, die sich um die Stabilität eines Gemeinwesens sorgen, schwer erklären können. Mit Parteien, die sich auf die Rolle einer Stellenvermittlungsagentur beschränken, ist kein Staat mehr zu machen. Inzwischen kursiert in informierten Kreisen der Witz: Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und einer Tatsachenwahrheit? Zwölf Monate.
Die vier Bremer Bundestagsabgeordneten, die ungeachtet der tatsächlichen Lage mit ihrer Abstimmung erneut den Ausnahmezustand verlängert und damit die massivsten Grundrechtseinschränkungen der Nachkriegszeit ermöglicht hatten, erhielten tags darauf ein zweiseitiges Schreiben an ihre Abgeordnetenadresse, in dem ich ihr verantwortungsloses Tun mit Verweis auf die deutsche Geschichte scharf kritisierte und sie wegen der Auswirkungen ihrer Abstimmung als Verfassungsfeinde bezeichnete, wohl wissend, dass in der deutschen staatshörigen Tradition die Feindzuschreibung als Volks-, Staats- oder Feind aller Wohlgesinnten mehr als Herrschaftssicherung denn als Machtkritik gebräuchlich ist (eines der vier gleichlautenden Schreiben ist hier exemplarisch verlinkt).
Die drei weiblichen Abgeordneten, allen voran die Vertreterin der Grünen, nutzten statt des politischen Meinungsaustauschs das Strafrecht, stellten Strafanzeige und -antrag wegen Beleidigung und meinten wohl, sich so der politischen Verantwortung entziehen zu können. Frau Kerstin Kappert-Gonther am 20.11.2020, Frau Elisabeth Motschmann (CDU) am 25.11.2020 und Frau Sarah Ryglewski (SPD) im November 2020, ein präzises Datum ist nicht angegeben.
Einen Tag nach meinem Schreiben meldeten sich Bremer Polizisten in Zivil vor meinem Haus und wollten von mir wissen, ob ich Briefe an Bremer Bundestagsabgeordnete geschrieben hätte. Meine mehrfache Nachfrage, ob denn etwas vorliege und sie mir eine Vorgangsnummer geben könnten, verneinten sie. Sie betonten, nur reden zu wollen, was ich, nachdem ja nichts vorlag, dankend ablehnte.
Da sie sich auf meinem Grundstück aufhielten, aber keinen Durchsuchungsbefehl vorweisen konnten, zogen sie unverrichteter Dinge wieder von dannen. Ich vergaß den Vorfall, bis mir anderthalb Jahre später am 04.08.2022 ein Strafbefehl in Höhe von 75 Tagessätzen a 30,00 € zugestellt wurde. Wer als unabhängiges Gericht diesen Strafbefehl erlassen hat, war entweder sehr in Eile, inkompetent oder hatte mehr die Parteipolitik als die Verfassung im Sinn, denn sonst hätte man sich daran erinnern können, „dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet. Teil dieser Freiheit ist, dass Bürger von ihnen als verantwortlich angesehene Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen können, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden.“ So steht es in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.05.2020. Es ist schon peinlich genug, in einem Land mit zwei totalitären Ordnungen in seiner Geschichte auf derlei Selbstverständlichkeiten überhaupt hinweisen zu müssen.
Erst über diesen Strafbefehl habe ich von den drei Strafanzeigen-/anträgen erfahren und umgehend die zur Wahrung rechtsstaatlicher Verhältnisse außerordentlich engagierte Anwältin Jessica Hamed eingeschaltet, die uns bereits in erster Instanz erfolgreich gegen den Bundesgesundheitsminister Lauterbach vertreten hatte, als dieser ohne sachliche Rechtfertigung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Frist für Genesene von sechs auf drei Monate verkürzt hatte.
Rechtsanwältin Hamed beantragte Akteneinsicht, legte gegen den Strafbefehl Einspruch ein und verwies in ihrem umfangreichen Schriftsatz an das Gericht darauf, dass ein Sachverhalt gegeben ist, „der schulbuchmäßig einen Fall beschreibt, der gerade nicht justiziabel, sondern klar von der Meinungsfreiheit gedeckt“ sei. Sie führte zahlreiche öffentliche Stellungnahmen von Politkern bis hin zu Spitzenjuristen an, die in der Sache ähnlich argumentierten. Die Bremer Staatsanwaltschaft lehnte die geforderte Einstellung des Verfahrens ab, es kam am 20.03.2023 zum Prozess. Die drei Verursacher dieser Farce waren nicht geladen.
Element persönlicher Beleidigung nicht erkennbar
Das Gericht schloss sich den Ausführungen der Anwältin an, erkannte auf Freispruch auf Kosten der Staatskasse und betonte in seiner mündlichen Begründung, dass ein Element persönlicher Beleidigung nicht erkennbar sei. Die Schreiben seien an die jeweilige Abgeordnetenadresse gegangen, enthielten eine ausführliche Begründung einer zwar scharfen, aber jederzeit sachlichen Kritik und seien daher von den „Beleidigten“ in ihrer Funktion als politische Repräsentanten hinzunehmen. Nach der Urteilsverkündung nutzte ich die Gelegenheit, das Gericht auf eine bestimmte Textstelle der offiziellen „Maßnahmenevaluation“ aufmerksam zu machen.
Gemäß Paragraph 5 Absatz 9 Infektionsschutzgesetz (IfSG) hatte das Bundesgesundheitsministerium eine externe Evaluation der Pandemiemaßnahmen in Auftrag gegeben, deren Ergebnis am 30. Juni 2022 vorgelegt worden war. Der Bericht der Sachverständigenkommission enthält im Abschnitt 7.3.2.7 mit dem Titel „Absonderung“ einen interessanten Satz, den ich hier zitiere: „Paragraph 30 IfSG erlaubt die Absonderung (also die Anordnung von Quarantäne und Isolation) im Einzelfall. Dabei handelt es sich nach herrschender Meinung um eine Freiheitsentziehung gemäß Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz. Im Ergebnis bedeutet dies, dass auch für Absonderungen nach Paragraph 30 Absatz 1 IfSG (und nicht nur für solche nach Paragraph 30 Absatz 2 IfSG) der Richtervorbehalt des Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz gilt, den die Vorschrift aber nicht vorsieht.“ Im Klartext: sämtliche freiheitseinschränkenden oder -entziehenden Anordnungen, die von Gesundheitsämtern ausgesprochen wurden und die nicht von einem Richter bestätigt wurden, waren verfassungswidrig und stellen eine Amtspflichtverletzung dar.
‚Grenzwertig gäbe es nicht, es gäbe nur positiv oder negativ‘
Abgesehen davon, dass ein PCR-Testergebnis ohne jede weiterer Differentialdiagnostik schon methodisch ungeeignet ist, jegliche Art von Grundrechtseinschränkung zu rechtfertigen, war ein Ergebnis von mir zusätzlich laut schriftlichem Laborbefund „grenzwertig“, eine Gen-Sequenz schwach positiv, die andere negativ. Eine freundliche Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes Bremervörde erklärte mir telefonisch, grenzwertig gäbe es nicht, es gäbe nur positiv oder negativ, also wäre hier grenzwertig positiv und die Quarantäne müsse verlängert werden. Ich muss bei dieser bestechenden Logik so zornig geworden sein, dass sich die konsternierte Dame nie wieder gemeldet hat. Die allgemeine Frage aber bleibt: Wie viele solcher freiheitseinschränkenden und -entziehenden Anordnungen wurden bundesweit erlassen? Welche Konsequenzen haben die politisch verantwortlichen Gesundheitsminister getroffen, um einen derart massenhaften Amtsmissbrauch in Zukunft zu verhindern?
So erfreulich das Freispruch-Urteil ist, in gesunden politisch-rechtlichen Verhältnissen hätte man den entrüsteten Abgeordneten ein Grundgesetz zur Lektüre mitgegeben und sie wieder nach Hause geschickt. Schon der Polizist auf der Wache, der die Strafanzeige aufnehmen soll, spätestens der Staatsanwalt hätte ihnen ironisch sagen können: „Früher hätte man ja politische Gegner gerne eingesperrt, aber heute sei das nicht mehr üblich.“ Bei hartnäckiger Einsichtslosigkeit hätte man den Parlamentarierinnen ein sechsmonatiges Praktikum im englischen Unterhaus empfohlen. Ihre Vorstellungen von den Aufgaben eines Gesetzgebers seien bedenklich unterentwickelt.
Das Urteil bleibt Stückwerk, solange die deutsche Justiz fortwährend an der Herausforderung scheitert, ihre unrühmliche Tradition willfähriger Staatsdiener zu beenden und politisch erwachsen zu werden. Die deutschen Juristen als Berufsstand, als Organ der Rechtspflege – einzelne Ausnahmen bestätigen die Regel – haben kontinuierlich versagt: in der Weimarer Republik, als die politische Gewalt Normalität wurde, man denke nur an die bekanntesten Mordopfer Rathenau, Erzberger, Liebknecht und Luxemburg. Sie haben 1933 versagt, als eine Bande von Kriminellen vor aller Augen den Staatsterror etablierte. Sie haben 1945 versagt. Kein einziger Richter, so schreibt Ingo Müller in „Furchtbare Juristen“, wurde von seinen deutschen Juristenkollegen juristisch für seine monströsen Urteile zur Verantwortung gezogen.
Und es gibt wenig Anlass, an der Einschätzung des damaligen hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer zu zweifeln, dass ein Adolf Eichmann in Deutschland nicht vor Gericht gestellt worden wäre. Er sorgte dafür, dass die Israelis tun konnten, was die Deutschen nicht tun wollten.
Sie haben 1968 versagt, als der Mann, der Benno Ohnesorg von hinten erschoss, freigesprochen wurde. Sie haben 1989 versagt, als die Unrechtsjuristen der DDR hätten bestraft werden müssen: Und sie haben gerade eben wieder katastrophal versagt, als sie einer maßlos übergriffigen Exekutive zur Wiederherstellung einer mühsam austarierten Machtbalance unmittelbar die rechtlichen Grenzen hätten setzen müssen.
Die Hoffnung der Amerikaner, den Deutschen mit den Nürnberger Prozessen einen Sinn für Rechtswahrung zu übertragen, hat sich nicht erfüllt.
Ausmaß und Qualität der verbalen Entgleisungen, die in den „Pandemie“-Jahren von Politikern, Funktionären und zahllosen mehr oder minder prominenten Mitläufern gegenüber solchen gefallen sind, die in der Massenhysterie einen klaren Kopf behielten, legen beredt Zeugnis ab, wie viele Deutsche bis heute nicht verstanden haben, warum die Sache mit der Würde in unserem Grundgesetz an so prominenter Stelle steht. Schonungslos hat die Corona-Krise die deutsche Lebenslüge der bewältigten Vergangenheit ans Licht gebracht und daran erinnert, wie dünn die zivilisierte Schicht an der Oberfläche tatsächlich ist.
Sich freiwillig von Jämmerlichkeiten wie das, was gegenwärtig als politisch-mediale Elite hofiert wird, auf der Nase herumtanzen zu lassen, wird nicht geeignet sein, dem Land politisch im Ausland Respekt zu verschaffen. Eher wird man die scheinbar unausrottbare Leidenschaft der Deutschen, hergelaufene Scharlatane als neue Heilsbringer anzubeten, achselzuckend zur Kenntnis nehmen, die Deutschen, solange sie nur sich selbst schädigen, ignorieren und sich bei der Wahl nach geeigneten Partnern zur Aufrechterhaltung einer zivilisierten Ordnung anderweitig orientieren. Ich appelliere deshalb an meine Landsleute, in Erwägung zu ziehen, ob es nicht klüger wäre, die unterbrochene Revolution von 1989 in einer „constitutio libertatis“ zu Ende zu bringen und das labile Gemeinwesen auf stabilere Füße zu stellen.
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Der Rechtsstaat zuckt noch: Bhakdi freigesprochen. Aber Staatsanwaltschaft sinnt auf Rache.
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Dieser Beitrag erschien zunächst auf Hannah-Arendt.de.