„Das Bundesverfassungsgericht ist einer Falschinformation aufgesessen“ Jurist geht hart mit „Aufarbeitungsverhinderern“ ins Gericht

Von Kai Rebmann

Die längst überfällige Aufarbeitung der Corona-Jahre soll offenbar weiter mit allen Mitteln nicht nur verhindert, sondern geradezu torpediert werden. Maßgeblichen Anteil daran haben – wen wundert’s? – der amtierende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und dessen Vorgänger Jens Spahn (CDU). Jene Politiker also, die wohl das geringste Interesse an einer echten Aufklärung haben dürften.

Denn wann, wenn nicht jetzt, wäre die Gelegenheit, wirkliche Verantwortung – und zwar nicht nur die politische – für die mindestens fahrlässigen Fehler der vergangenen Jahre zu übernehmen? Erhebliche Zweifel an den Motiven der handelnden Personen bestehen nicht erst, aber spätestens seit der erzwungenen Veröffentlichung der RKI-Protokolle vor wenigen Monaten.

Aber es scheint Hoffnung zu geben. Denn zumindest auf juristischer Ebene kommt langsam etwas Bewegung in die Corona-Aufarbeitung bzw. der Forderung nach derselbigen. So etwa durch das Verwaltungsgericht Osnabrück, das am 3. September 2024 einen Vorlagebeschluss erlassen hat, der dem Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit gibt, seine Entscheidung zur begrenzten Impfpflicht (Paragraf 20a IfSG) vom 27. April 2022 zu überprüfen.

RKI-Protokolle bringen juristischen Stein ins Rollen

Hintergrund: Vor zweieinhalb Jahren hat Karlsruhe mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die partielle Impfpflicht abgewiesen und den entsprechenden Paragrafen für verfassungsgemäß erklärt. Mit seiner aktuellen Entscheidung regt das Verwaltungsgericht Osnabrück eine neuerliche Überprüfung an – ausdrücklich auf Grundlage des Inhalts der RKI-Protokolle und der sich hieraus ans Tageslicht gekommenen Erkenntnisse.

Dieser Vorlagebeschluss führte in gewisser Weise zu einer Parallelität der Ereignisse. Wie schon während der Corona-Jahre können sich die damals wie heute politisch Verantwortlichen auf die mediale Schützenhilfe verlassen. So bot zuletzt etwa die FAZ mit Klaus Ferdinand Gärditz einen „Experten“ auf, der den Beschluss aus Osnabrück nach Strich und Faden zerlegen wollte – und dabei offenbar ein lupenreines Eigentor schoss.

Gärditz, seit 2009 Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, beginnt seinen Verriss mit dem Vorwurf, das Verwaltungsgericht Osnabrück habe Paragraf 31 BVerfGG (Bundesverfassungsgerichtsgesetz) außer Acht gelassen. Dieser besagt tatsächlich: „Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“ Weiter können Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in bestimmten Fällen Gesetzeskraft entwickeln.

Paragraf 31 BVerfGG 'nicht einschlägig'

Was auf den ersten Blick wie ein klarer Fall aussieht, verlangt nach einer sauberen juristischen Einordnung. Diese nimmt Dr. Manfred Kölsch vor, der rund 40 Jahre als Richter und Vorsitzender Richter am Landgericht Trier tätig war und seit seiner Pensionierung als Rechtsanwalt arbeitet. In einem Gastbeitrag für den „Cicero“ nennt der Jurist seinen Kollegen aus Bonn in Bezug auf die Corona-Krise einen „prominenten Aufarbeitungsverhinderer“ und bescheinigt ihm, den Vorlagebeschluss aus Osnabrück „unqualifiziert und besonders polemisch“ anzugreifen.

Paragraf 31 BVerfGG sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig, so Kölsch. Heißt: Die Richter in Niedersachsen haben die vom Bundesverfassungsgericht am 27. April 2022 getroffene Entscheidung, wonach die begrenzte Impfpflicht verfassungsgemäß gewesen sei, nie in Frage gestellt. Vielmehr habe das Gericht die Frage aufgeworfen, ob Paragraf 20a IfSG nicht spätestens im Laufe des 2. Halbjahres 2022 „in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“ sei, wie es in feinstem Juristen-Deutsch heißt.

Kölsch beginnt seine Argumentationskette im März 2022, als die partielle Impfpflicht in Deutschland eingeführt wurde. Dem Gesetzgeber sei es darum gegangen, „vulnerable Personen vor Infektion zu schützen“, so der Jurist. Aber: „Ob durch Impfung des Pflegepersonals in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arztpraxen zugleich ein Schutz der Gepflegten vor Ansteckung durch das Pflegepersonal (Fremdwirkung) erreicht werden konnte, war stets umstritten.“ Und damit drückt sich der Jurist wohl noch sehr diplomatisch aus.

Nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht selbst hat in besagtem Beschluss vom 27. April 2022 klargestellt, dass dieser nicht für alle Ewigkeiten in Stein gemeißelt ist. Darin heißt es ausdrücklich: „Eine erneute Vorlage kommt dann in Betracht, wenn tatsächliche oder rechtliche Veränderungen eingetreten sind, die eine Grundlage der früheren Entscheidungen berühren und deren Überprüfung nahelegen.“

Karlsruhe verließ sich blind auf RKI

Und diese „Veränderungen“ der damaligen Grundlage für die Entscheidung aus Karlsruhe sind nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Osnabrück inzwischen eingetreten, nicht zuletzt durch das Bekanntwerden der RKI-Protokolle. Auch Kölsch teilt diese Einschätzung, da das Bundesverfassungsgericht „wie selbstverständlich für seine Entscheidung fortlaufend die Lageberichte des RKI herangezogen“ habe.

Und weiter: „Das Bundesverfassungsgericht hat geglaubt, die Behauptung, eine Impfung habe einen wirksamen Fremdschutz zur Folge, beruhe auf einer wissenschaftlichen Bewertung und sei deshalb zwingend. Nach den Erkenntnissen des Verwaltungsgerichts Osnabrück ist das Bundesverfassungsgericht einer unbesehenen übernommenen Falschinformation aufgesessen.“

Das ist starker Tobak, wird doch dem RKI hier von prominenter Stelle nicht weniger als die Verbreitung von Fake News vorgeworfen, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrten und entbehren. An Karlsruhe gerichtet, bemängelt Kölsch völlig zurecht, dass sich das Bundesverfassungsgericht zumindest sehr einseitig, wenn nicht sogar ausschließlich auf das RKI als Quelle vermeintlich zuverlässiger Einschätzungen verlassen hat.

'Ansprüche an Wissenschaftlichkeit und Objektivität erodieren'

Von alledem zeigt sich Klaus Ferdinand Gärditz in der FAZ völlig unbeeindruckt und behauptet, dass es „weder neue Tatsachen noch neue rechtliche Gesichtspunkte“ gebe, die die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 2022 berührten. Daher werde Karlsruhe die Vorlage aus Osnabrück als unzulässig verwerfen, glaubt Gärditz.

Geradezu vernichtend fällt das Fazit von Dr. Manfred Kölsch in Richtung sowohl seines Kollegen als auch des RKI aus: „Die platte Behauptung von Gärditz, das RKI sei von einer evidenzbasierten Drittwirkung der Impfung ausgegangen, ist nach alldem ein Beispiel dafür, wie wegen subjektiver Voreingenommenheit Ansprüche an Wissenschaftlichkeit und Objektivität erodieren. Die beim RKI vorherrschende Unkenntnis über einen Drittschutz der Impfung erschüttern die Grundlagen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 2022 und erfordern deren Überprüfung.“

Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen, außer natürlich die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht seine zweite Chance in Form der Steilvorlage aus Osnabrück nutzt und aus seinen eigenen Fehlern der Vergangenheit lernt – und sich nicht einmal mehr als Karlsruher Stempelmaschine für die hohe Politik in Bund und Ländern entpuppt.

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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.

Bild: Ralf Liebhold/Shutterstock

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