Von Ekaterina Quehl
In der Erzählung des russischen Schriftstellers Anton Tschechow „Das Krankenzimmer Nummer 6“ besucht der behandelnde Arzt einen psychisch kranken Patienten in seinem Krankenzimmer, um Gespräche über den Sinn des Lebens, die Freiheit und moralische Verantwortung mit ihm zu führen. Irgendwann erscheinen ihm diese Gespräche weitaus vernünftiger als die mit seinen Kollegen und Freunden, die den moralischen Verfall der Gesellschaft und die Miseren seines Landes als Norm ansehen.
So ähnlich wie es dem Arzt in Tschechows Erzählung ergeht – dass unsere Gesellschaft mehr einer Irrenanstalt als diese selbst ähnelt – geht es auch manchmal mir. Zuletzt, als ich erfahren musste, was ein Realitätstraining ist.
Selbst diejenigen, die davon nie gehört haben, mussten spätestens seit der Flucht eines somalischen Straftäters, der einen Obdachlosen mit 111 Messerstichen ermordet und anschließend geköpft hat, schon mal eine grobe Vorstellung davon bekommen haben.
Kurz zur Erinnerung: Ein Realitätstraining ist, wenn ein solcher Straftäter – weil er im Auftrag von „zwei Dämonen“ handelt – in eine geschlossene Psychiatrie kommt statt ins Gefängnis und sich im Rahmen seiner Behandlung den Film „Alles steht Kopf 2“ anschauen darf. Doch nicht wegen des Film-Namens heißt die Maßnahme so. Sondern, weil sich das Kino nicht in der geschlossenen Psychiatrie befindet. Es befindet sich in der Realität, die in diesem konkreten Fall mehrere Kilometer von der Klinik entfernt liegt, in der Stadt Platting. Kein Grund zur Panik: Sein Training absolviert der Straftäter nicht allein, sondern in Begleitung zweier Krankenhaus-Mitarbeiterinnen, einer Psychologin und einer Praktikantin. Dass der Patient nach einer Toilettenpause fragt und während dieser flieht, zeigt, dass er sich durchaus gut in der Realität orientieren kann. Was man allerdings nicht über seine zwei Begleiterinnen behaupten kann. Denn diese rufen nicht sofort die Polizei. Sie gehen zuerst in die Anstalt zurück: Vielleicht findet ja der kranke Mann nach seinem „Realitätsbesuch“ von ganz allein ins Krankenhaus zurück?
Dass Deutschland zunehmend mehr einem Irrenhaus ähnelt, musste ich denken, als ich erfuhr, dass ein solches Realitätstraining keineswegs eine Ausnahme war. Im Rahmen der gleichen Maßnahme gehen zwei weitere „Patienten“ der gleichen Klinik ins Kino, wo sie sich einen Kinderfilm ansehen – einer von ihnen hat eine diagnostizierte Pädophilie.
An dieser Stelle musste ich erneut nachforschen, was ein Realitätstraining eigentlich ist. Denn inzwischen hatte ich den Eindruck, dass es darauf abzielt, Patienten an Orte zu bringen, die neue Straftaten begünstigen sollen – um dann zu schauen, was passiert. Vielleicht ist Deutschland tatsächlich zu einer Irrenanstalt geworden?
Als ich kurz darauf las, dass der leitende Arzt der Klinik aufgrund seiner fragwürdigen Maßnahmen bis Ende 2024 freigestellt wurde, schimmerte in mir wieder Hoffnung für dieses Land auf. Vielleicht könnte man es noch irgendwie retten? Wie wäre es mit Realitätstrainings nicht nur für Mörder und Pädophile, sondern für diejenigen, die unsere Gesellschaft durch ihre Entscheidungen und Maßnahmen in eine Irrenanstalt verwandeln?
Solche Realitätstrainings könnten zu völlig neuen Perspektiven führen. Was wäre, wenn Bundespolitiker auf der Arbeitssuche wären, bei einem Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde? Oder besser noch: Sie würden für ihren aktuellen Job den Mindestlohn erhalten. Vielleicht könnte das tatsächlich reichen, denn Friseur, Kosmetik und weitere Spesen zahlt ja der Steuerzahler.
Allerdings könnte ein Realitätstraining auf dem Wohnungsmarkt bei einem solchen Gehalt herausfordernd sein. Nach monatelanger Suche stünden Politiker vor einer Ein-Zimmer-Wohnung, die 1.500 Euro kalt kostet, und fragten sich, was aus den versprochenen 400.000 Wohnungen pro Jahr geworden ist? Und wenn sie schließlich eine Wohnung fänden, könnten sie im Winter ihre Heizung richtig hochdrehen – um dann zu sehen, ob ihr Gehalt noch für die Energiekosten ausreicht.
Wie wäre es mit einem Reality-Check in Bus und Bahn? Politiker, die an der Bushaltestelle stehen und zum ersten Mal den Begriff „Verspätung“ in Echtzeit erleben. Oder in einem Zug zusehen müssen, wie sich ein Zugbegleiter vor einer Gruppe freundlicher „Einmänner“ in sein Abteil flüchtet, selbst aber möglicherweise angegriffen werden? Vielleicht würde dann eine Messerverbotszone in der Bahn helfen?
Man stelle sich auch vor: Bundespolitiker im Supermarkt, die Preise für Grundnahrungsmittel seit Jahren zum ersten Mal sehen. Vielleicht entdeckt einer, dass Butter mittlerweile fast so viel kostet wie ein guter Tropfen Wein.
Eventuell könnte man sogar realitätsnahe Erlebniscamps für Abgeordnete einführen. Sie könnten dort lernen, wie es ist, mit einer schmalen Rente auszukommen, wochen- oder monatelang auf einen Arzttermin zu warten oder mal versuchen, einen neuen Ausweis in einem Bürgeramt zu beantragen. Man könnte sie dann beruhigen: „Nicht erschrecken. Das ist die Realität. Das geht vorbei.“
In Tschechows Erzählung versteht der Arzt nicht, wieso die Menschen um ihn herum das Elend dieser Welt als etwas völlig Normales akzeptieren. Doch diese halten ihn genau deshalb für seltsam und verrückt und sperren ihn am Ende ins Krankenzimmer Nummer 6 als Patienten ein. Ist Deutschland bereits zu einem Krankenzimmer Nummer 6 geworden? Zu einem Ort, an dem diejenigen, die die Dinge so sehen, wie sie sind, nicht mehr für normal gehalten werden?
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Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin und lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Sie arbeitet für reitschuster.de.
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