Aus Liebe zum Paragrafen Warum Vorschriften für manche ihr Lebensinhalt sind

Von Ekaterina Quehl
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Während meines Studiums hatte ich einen Nebenjob als Dolmetscherin in einem Sozialamt für Flüchtlinge, das darauf spezialisiert war, sämtliche Angelegenheiten der Asylbewerber außer dem Asylverfahren selbst, zu organisieren: Von der Suche nach einer Unterkunft und Auszahlung von Bargeld, bis hin zur Übernahme der Miete, Krankenversicherung etc. Die meisten Menschen, die dort arbeiteten, waren nach Jahren des gewaltigen Arbeitsaufwands dermaßen abgestumpft, dass sie weder Empathie für ihre Kunden hatten noch auf sich selbst achteten. Ihr eigenes Leben schien ihnen gleichgültig zu sein. Sie machten ständig Überstunden, waren krank, ausgebrannt und psychisch häufig ein Wrack.

Aber es gab Dinge bei ihrer Arbeit, die nicht verhandelbar waren. Kein krankes Kind und keine noch so traumatische Flucht-Geschichte konnten mit diesen Dingen mithalten.

Es waren Mittagessen und Vorschriften.

Wobei das zweite fast schon heilig schien. Nein, nicht in dem Sinne, dass sie eingehalten wurden – das ging in den schon damals, vor 2015, überfüllten Sozialämtern gar nicht – aber in dem Sinne, dass die Akte sauber war.

Der Glaube an die Kraft auch noch so kleiner Vorschriften schien so stark, dass die Mitarbeiter allen Ernstes davon ausgingen, es existiere keine Gegenkraft gegen sie. Sie wurden zu einer Art „Zauberspruch“, der mit seiner gewaltigen Kraft unüberwindbare Hürden aufstellen oder Menschen zum Gehorsam bringen musste.

Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ein Mitarbeiter seinem Kunden für einen Monat Hausverbot erteilte, weil er ihm mit Gewalt gedroht hatte. Wie überrascht war der Mitarbeiter, als der Asylbewerber sein Hausverbot völlig ignoriert hat und am nächsten Tag mit einem Ast durch die Security drang und dem Mitarbeiter mit Mord drohte. Daraufhin erteilte ihm dieser ein Hausverbot für ein halbes Jahr. Voller Überzeugung, dass der Kunde spätestens jetzt seine Morddrohungen einstellt – aus Angst vor einem längeren Hausverbot.

Noch bis vor einigen Jahren habe ich diese spezielle Eigenschaft bei manchen – sich an Regeln und Vorschriften zu halten und stets andere auf sie hinzuweisen – noch lächelnd oder sogar mit Respekt hingenommen. In Russland, meiner Heimat, habe ich viel entspannteren Umgang mit Regeln und Vorschriften erlebt. In der Corona-Zeit und auch heute, beim neuen Anlauf des „Kampfs gegen rechts“, sehe ich, dass sich diese Besonderheit bei manchen in einen Drang, ja eine Neurose, verwandelt hat. Einige können es nicht lassen, andere an die Vorschriften zu erinnern, beziehungsweise sie auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen. Egal wie absurd und nebensächlich sie scheinen und wie weit sie vom eigentlichen Thema entfernt sind.

Was ist das, wenn die Empörung über einen Menschen, der beim Corona-Lockdown im Freien einen Apfel isst – ohne Maske, versteht sich – größer ist, als die über die Unterdrückung rudimentärer Rechte durch absurde widersprüchliche Regeln?

Was ist das, wenn der Aufruhr über angeblich falsche Kennzeichen der Traktoren auf den Bauern-Demos größer ist, als der über den Umgang mit den protestierenden Bauern und die untergehende Landwirtschaft?

Warum scheint der Streit darüber, ob auf einem „AFDler töten“-Plakat bei der Demo „gegen rechts“ ein Punkt oder ein Ausrufezeichen steht, wichtiger als die Gefahr, die solche „Demos“ für dieses Land mit sich bringen?

Und wie kann man die Diskussion verstehen, bei der man unbedingt klären muss, was denn nun Böhmermann mit seinem Spruch über „Nazis keulen“ gemeint haben soll: schlachten oder onanieren?

Ein Leser-Kommentar zu dem Artikel „Bei falscher Meinung fristlose Kündigung der Wohnung“ verdeutlicht, wie scharf bei manchen der Blick auf das offensichtlich Nebensächliche ist und wie stark der Drang, andere zurechtzuweisen. Bei dem Artikel ging es darum, dass eine örtliche Wohnungsbaugenossenschaft bei „rechtsextremen Aussagen, Handlungen oder Gedanken“ mit einer fristlosen Kündigung gedroht hat.

Ein Leser schrieb uns:

„Auch wenn das Verhalten des Genossenschaftsvorstandes völlig daneben ist, kann ich in die Klage hier nicht so einfach einstimmen. Eine Genossenschaft ist erst mal nichts anderes als ein freiwilliger Zusammenschluss von Personen, die ein Projekt gemeinsam betreiben. Die dürfen erst mal auch beliebig bescheuerte Regeln darüber aufstellen wer da Mitglied werden darf. Und wem das nicht passt der tritt entweder in eine solche Genossenschaft nicht ein und macht notfalls seine eigene auf. Warum also z.B. keine Wohnungsbaugenossenschaft gründen die explizit alle woke-grünen Spinner ausschließt?“

Der Leser hat offenbar überhaupt nicht verstanden, dass es im Artikel um ungeheuerliche Absichten und Verhalten gegenüber Andersdenkenden ging und nicht um Formalitäten, die im Rahmen einer Rechtsform umsetzbar wären.

Ich bin keine Psychologin und kann nur ahnen, was ein solches, häufig kompulsives, Klammern an nebensächliche oder völlig bedeutungslose Dingen heißen soll. Vielleicht ist es ein Schutzmechanismus, der hilft, den Blick von dem abzuwenden, was wirklich wichtig ist? Denn sonst wäre die Last der Realität ungeheuerlich schwer zu ertragen.

Doch was bringt es, wegzuschauen, wenn die Wirklichkeit einen früher oder später einholt? Wenn auf mich ein Auto mit 200 km/h zurast, beklage ich mich nicht darüber, dass es die maximal erlaubte Geschwindigkeit überschritten hat, sondern tu etwas dagegen, dass es mich überfährt.

Über den Mitarbeiter der Asylbehörde, der einem Kunden wegen einer Morddrohung für ein halbes Jahr ein Hausverbot erteilte, schrieb ich später eine Erzählung – eine fiktive Fortsetzung der realen Geschichte. In dem Finale tötet der völlig überdrehte Kunde den Mitarbeiter. Noch vor seinem letzten Atemzug sagt er seinem Mörder: „Hiermit erteile ich Ihnen ein Hausverbot! Für immer!“

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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin und lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Sie arbeitet für reitschuster.de.

Bild: Shutterstock

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