Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger
Auch wenn seine Werke an deutschen Schulen vermutlich nur noch selten besprochen werden, da sie unter Umständen unangenehme Reaktionen wie etwa ein Gefühl der Anstrengung unter den Schülern auslösen könnten, ist Johann Wolfgang von Goethe auch in unserer Zeit alles andere als veraltet. Nach aktuellen Textpassagen muss man nicht lange suchen, manche drängen sich geradezu auf. So richtet beispielsweise in Goethes „Faust“ im „Prolog im Himmel“ Der Herr eine Frage an seinen gefallenen Engel Mephistopheles:
„Hast du mir weiter nichts zu sagen?
Kommst du nur immer anzuklagen?
Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?“
Wer müsste nicht sofort an den selbstgefälligsten Gesundheitsminister aller Zeiten denken, an Karl Lauterbach, der mit Freude und Ausdauer inzwischen vor fast allem warnt – außer vor sich selbst? Und tatsächlich könnte sogar die Antwort des teuflischen Mephistopheles dem Geist des Ministers entsprungen sein, denn er sagt: „Nein Herr! ich find es dort, wie immer, herzlich schlecht.“ Allerdings nur, um fortzufahren:
„Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen,
Ich mag sogar die armen selbst nicht plagen.“
So viel Sprachkunst und auch so viel Humanität, die der gefallene Engel hier aufbringt, liegen dem Minister, dessen fachliche Kompetenz nur noch durch seine sprachliche Ausdruckskraft unterboten wird, fern. Stattdessen macht er das, was er am besten kann: Er mahnt und warnt, was das Zeug hält. „Wir müssen in der Medizin und in der Pflege diejenigen Menschen schützen, die uns anvertraut sind. Da ist es nicht akzeptabel, dass wir ein Risiko eingehen, andere zu infizieren, die auf unseren Schutz angewiesen sind und dann möglicherweise schwer erkranken oder sogar sterben.“ Das ist seine Begründung für die einrichtungsbezogene Impfpflicht, bei der er offenbar voraussetzt, dass Geimpfte weniger anfällig sind für eine Covid-Infektion als Ungeimpfte und somit eine entsprechende Impfung den nötigen Fremdschutz garantiert. Und er sorgt sich um die Folgen ungezügelter Freiheit, die außerhalb der deutschen und der österreichischen Grenzen um sich greift, doch im besten Deutschland, das es je gab, unbedingt verhindert werden muss: „Es wird keinen Freedom Day geben. Die Länder haben bis zum 2. April Zeit, sich neue Regeln zu geben. Wenn die Hotspot-Regelung von allen genutzt wird, können wir damit viel machen“, war im Morgenmagazin zu hören, und man mag sich gar nicht vorstellen, welche Ideen bei solchen Sätzen im ministeriellen Gehirn bewegt werden mögen. Aber schließlich kann man gar nicht genug Vorsicht walten lassen: „Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein.“ Permanenter Ausnahmezustand, andauernde Freiheitsberaubung und die Pflicht zur so häufig wie möglich verordneten Impfung – so stellt sich der Minister die Zukunft vor.
Schutzwirkung der Impfung
Aber wie sieht es mit der Schutzwirkung der vielbeschworenen Covid-Impfung aus? Dem ersten Impuls, in den Daten des beliebten RKI nach Informationen zu suchen, sollte man nicht nachgeben, denn dort scheint man den Datenschutz so weit zu treiben, dass man die Daten vor zudringlichen Fragen schützt, indem man sie erst gar nicht erhebt. Wer auf einigermaßen brauchbare Daten aus ist, muss nicht nur über den Tellerrand hinausschauen, sondern gleich über den Kanal, nach England. Dort findet man im „COVID-19 vaccine surveillance report, Week 10“ insbesondere Informationen über Covid-Fälle, Hospitalisierungen und Todesfälle, aufgeschlüsselt nach Impfstatus und nach Altersgruppen. Es könnte sich also lohnen, wieder einmal einen Blick auf diese Daten zu werfen. Dabei muss man wie üblich etwas Vorsicht walten lassen, denn es genügt nicht, einfach nur aufzulisten, wie viele Covid-Fälle in einem bestimmten Zeitraum unter Geimpften oder Ungeimpften aufgetreten sind und gegebenenfalls in die eine oder die andere Richtung hämisch zu grinsen – man muss auch die jeweilige Impfquote berücksichtigen.
Wie man das machen kann, habe ich schon in zwei früheren Beiträgen erläutert und darf hier für die Einzelheiten auf diese Beiträge verweisen. Nur eine kurze Erklärung der verwendeten Größen ist nötig. Ganz gleich, um welche Art von Fällen es sich handelt, man kann anhand der gegebenen Daten den Anteil der Geimpften und den Anteil der Ungeimpften an diesen Fällen bestimmen. Das reicht noch nicht. Um beide Anteile vergleichen zu können, muss man noch berechnen, wie die ermittelten Verhältnisse sich auswirken würden, wenn die Anteile der Geimpften und der Ungeimpften in der gesamten Population gleich wären – das Ergebnis dieser Berechnung sind die bereinigten Anteile der Geimpften und der Ungeimpften an der Gesamtzahl der Fälle. Stehen sie erst einmal zur Verfügung, kann man leicht Vorteile oder Nachteile der beiden zur Diskussion stehenden Gruppen angeben. Nehmen wir beispielsweise an, es habe sich ein bereinigter Anteil der Geimpften von 60 % und ein entsprechender Anteil der Ungeimpften von 40 % an den Fällen ergeben. Bei gleicher Gesamtzahl von Geimpften und Ungeimpften heißt das, dass von 100 Fällen 60 zu Lasten der Geimpften gehen und 40 auf das Konto der Ungeimpften. Das sind 20 Fälle und damit 33,33 % weniger als bei den Geimpften, weshalb man hier von einem positiven Effekt für die Ungeimpften in Höhe von 33,33 % sprechen kann. Betrachtet man die Sache umgekehrt, so findet man unter den Geimpften 20 Fälle und damit 50 % mehr als unter den Ungeimpften, denn die hatten ja nur 40 Fälle. In dieser Situation hat man daher einen negativen Effekt für die Klasse der Geimpften, den man mit – 50 % beziffert. Das alles kann man in Formeln fassen, worauf ich hier verzichte. Insbesondere die Berechnung des Effekts entspricht genau der Berechnung der Effektivität nach Farrington, deren Formel man im RKI-Wochenbericht auf Seite 27 nachlesen kann. Allerdings betrachte ich hier die positiven und negativen Effekte sowohl aus der Sicht der Geimpften als auch im Blickwinkel der Ungeimpften.
Nun zu den Daten selbst. Im „Weekly national Influenza and COVID-19 surveillance report” der Kalenderwoche 10 findet man die englischen Covid-Impfquoten bis zur neunten Kalenderwoche.
Da man in Deutschland nach dem Willen von Karl Lyssenko Lauterbach erst nach mindestens drei Dosen als vollständig geimpft gilt, kann ich mich auf die Anteile der dreifach Geimpften beschränken. Wie sich gleich zeigen wird, passt die Aufteilung der Altersgruppen nicht ganz zu den altersbezogenen Angaben der positiven Fälle, Hospitalisierungen und Todesfälle, aber das lässt sich leicht ändern, indem man einzelne Klassen zusammenfasst.
Erstaunlicherweise will man nach derzeitigem Stand nicht einmal in Deutschland eine Impfpflicht für Minderjährige, weshalb ich mich im Folgenden auf die mindestens Achtzehnjährigen beschränke.
Um nun die Anzahl der Neuinfektionen – präziser gesagt: der positiven Testungen; diesen Unterschied hat Karl Lauterbach bis heute nicht verstanden – in Beziehung zu den Impfquoten setzen zu können, greife ich auf die Fallzahlen aus dem „COVID-19 vaccine surveillance report, Week 10“ zurück, in dem die Daten zwischen der sechsten und der neunten Kalenderwoche verzeichnet sind. Man findet die Fallzahlen in der folgenden Tabelle 10.
Jetzt steht alles Nötige zur Verfügung. In der letzten Spalte sind die dreifach Geimpften verzeichnet, in der Spalte „Not vaccinated“ die ausgewiesenen Ungeimpften, deren Schutz unserem Bundesgesundheitsminister so sehr am Herzen liegt. Daraus kann man direkt die Vergleichsdaten für die relevanten Altersgruppen berechnen.
In der Klasse der mindestens Achtzigjährigen liegt der bereinigte Anteil der Geimpften unter allen Fällen bei 79,52 %, der Anteil der Ungeimpften dagegen nur bei 20,48 %. Das ergibt im Hinblick auf die sogenannten Neuinfektionen einen positiven Effekt für die Ungeimpften in Höhe von etwa 74 %, den negativen Effekt für die Geimpften will ich gar nicht erst erwähnen. Ein mindestens achtzigjähiger Ungeimpfter hat somit nach den vorliegenden Daten ein um etwa 74 % vermindertes Risiko, mit einem positiven Test behelligt zu werden, als ein entsprechender Geimpfter. Das gibt zu denken, und noch mehr gibt es zu denken, dass die Verhältnisse mit abnehmendem Alter nicht nennenswert anders werden. In allen Altersklassen haben die Ungeimpften einen deutlich positiven Effekt zu verzeichnen, ihr Infektionsrisiko ist durch die Bank wesentlich niedriger als das der geimpften Population.
Fremdschutz, Hospitalisierungen, Todesfälle
Ein Fremdschutz durch Impfung liegt also keineswegs vor, zumal selbst das RKI weiß, dass auch Geimpfte im Rahmen einer Covid-Infektion „Viren ausscheiden und infektiös sind“ – noch ergänzt durch den entlarvenden Satz: „Wie hoch das Transmissionsrisiko unter Omikron ist, kann derzeit noch nicht bestimmt werden.“ Man darf es nicht vergessen: Wesentliches Argument für eine Impfpflicht der Volljährigen und erst recht für eine Impfpflicht im Gesundheitswesen ist der durch eine Impfung vermittelte Fremdschutz. Dem steht aber entgegen, dass Geimpfte stärker anfällig sind für neue Infektionen, während niemand belegen kann, dass das Risiko, andere zu infizieren, bei Geimpften niedriger ist als bei Ungeimpften. Man begreift langsam, was im Gesundheitsministerium unter Wissenschaft verstanden wird.
Im Grunde wäre die Sache damit schon erledigt: Fremdschutz liegt nicht vor, eine Impfpflicht kann nicht begründet werden. Der Ordnung halber werfen wir aber auch noch einen Blick auf die Hospitalisierungen und die Todesfälle. Die Hospitalisierungen für den betrachteten Zeitraum werden in Tabelle 11 des erwähnten Berichts aufgelistet.
Ziehen wir auch hier wieder einen Vergleich zwischen dreifach Geimpften und Ungeimpften.
Es will nicht wirklich besser werden. Betrachten wir wieder die Klasse der mindestens Achtzigjährigen, so liegt der bereinigte Anteil der Geimpften bei den Hospitalisierungen bei 58,03 %, der Anteil der Ungeimpften beträgt 41,97 %. Und wieder haben die Ungeimpften einen positiven Effekt, diesmal in Höhe von 27,67 %. Ein mindestens achtzigjähriger Ungeimpfter hat somit nach den vorliegenden Daten ein um etwa 27 % vermindertes Risiko, wegen COVID-19 hospitalisiert zu werden als ein entsprechender Geimpfter. In den Klassen von 60 bis 79 Jahren sieht das etwas anders aus, hier kann man eine Impfeffektivität von etwa 15 % verzeichnen, was allerdings kaum als überzeugend betrachtet werden kann. Und in allen jüngeren Klassen ist die Lage wieder eindeutig, der Vorteil liegt auf der Seite der Ungeimpften.
Fremdschutz wird nicht geliefert, Eigenschutz gegen Hospitalisierung nur für zwei Altersklassen, und auch das nur in sehr geringem Ausmaß – man kann nicht sagen, dass die bisherigen Ergebnisse sehr überzeugend sind. Wie sieht es nun mit Todesfällen aus? Die nächste Tabelle zeigt uns die Verhältnisse.
Hier werden die Todesfälle des betrachteten Zeitraums innerhalb von 60 Tagen nach einem positiven Test aufgelistet; wie üblich kann man nicht unterscheiden, ob es sich um Todesfälle an oder mit COVID-19 handelt. Der Vergleich zwischen den dreifach Geimpften und den Ungeimpften ergibt das folgende Bild:
In der am meisten betroffenen Altersklasse, nämlich der Gruppe der mindestens Achtzigjährigen, sehen sich die Geimpften wieder einem negativen Effekt gegenüber, die Ungeimpften haben einen Vorteil von etwa 31 %. In den nächsten Altersklassen ändert sich die Lage, allerdings liegt der Vorteil der Geimpften hier bei höchstens 32 %, was nicht für eine starke Effektivität spricht – schon gar nicht, wenn man sich die immer deutlicher werdenden starken Nebenwirkungen der Impfstoffe ins Gedächtnis ruft. Zudem sollte man nicht außer Acht lassen, dass die absoluten Zahlen der Todesfälle in den Klassen unter 50 oder auch unter 60 Jahren eher gering sind, sodass die Effektivitäten hier nicht sehr viel aussagen. Hätte man beispielsweise in der Klasse der Vierzig- bis Neunundvierzigjährigen fünf ungeimpfte Todesfälle weniger – fünf in einem Zeitraum von vier Wochen – oder würde sich herausstellen, dass fünf Todesfälle nur mit einem positiven Test erfolgten und mit COVID-19 nichts zu tun hatten, dann würde hier der positive Effekt der Impfung auf Null sinken. Kurz gesagt: In den jüngeren Altersklassen zwischen 30 und 50 Jahren ist ein nicht allzu starker und auch nicht allzu aussagekräftiger Effekt vorhanden, im Alter von 50 bis 80 ist der Effekt nicht stärker, aber wegen der höheren absoluten Zahlen aussagekräftiger, und in der Klasse ab 80 Jahren schlägt er in sein Gegenteil um. Damit kann man nicht einmal einen überzeugenden Eigenschutz nachweisen, einen Fremdschutz ohnehin nicht.
Selbstverständlich ist man auch in England um Ausreden nicht verlegen, man kann sie in dem zitierten Bericht auf Seite 45 nachlesen. Besonders schön ist die dritte Ausrede, die ich in deutscher Übersetzung wiedergebe: „Vollständig geimpfte und nicht geimpfte Personen können sich unterschiedlich verhalten, insbesondere im Hinblick auf soziale Interaktionen, und sind daher möglicherweise in unterschiedlichem Maße COVID-19 ausgesetzt.“ Und auch die erste Ausrede ist gar nicht übel: „Das Testverhalten von Personen mit unterschiedlichem Impfstatus ist wahrscheinlich unterschiedlich, was zu Unterschieden in der Wahrscheinlichkeit führt, als Fall identifiziert zu werden.“ Es könnten sich Unterschiede ergeben, möglicherweise sind die Risiken verschieden und wahrscheinlich auch das Testverhalten. Solange die angesprochenen Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten nicht geprüft und quantifiziert sind, handelt es sich nur um Erzählungen ohne jeden Wert. Nimmt man diese Einwände aber ernst, so lassen sie nur einen Schluss zu: Auch in England weiß man nichts, eine schöne Übereinstimmung mit deutschen Verhältnissen.
Fazit
Das Fazit ist klar. Entweder wir betrachten die Daten, wie sie sind; dann liefern sie nicht den geringsten Grund für eine Impfpflicht, erst recht nicht, wenn man die Impfnebenwirkungen in Erwägung zieht. Oder wir reden uns auf die übliche Weise aus den Daten heraus; in diesem Fall liefern sie nicht nur keinen Grund für eine Impfpflicht, sondern sie liefern gar nichts, wie wir es von den deutschen Daten schon lange gewöhnt sind. Und aus gar nichts kann man keine wie auch immer geartete Impfpflicht ableiten.
Mit Goethes Faust habe ich angefangen, mit Goethes Faust werde ich auch schließen. Der Deutsche Bundestag wird in absehbarer Zeit eine Abstimmung über verschiedene Varianten der völlig unverhältnismäßigen Impfpflicht durchführen. Man sollte den Abgeordneten die Worte des Direktors aus dem „Vorspiel auf dem Theater“ vorhalten:
„Der Worte sind genug gewechselt,
Laßt mich auch endlich Taten sehn!
Indes ihr Komplimente drechselt,
Kann etwas Nützliches geschehn.“
Worte haben sie tatsächlich genug gewechselt, die Volksvertreter, die zu weiten Teilen völlig vergessen haben, in wessen Auftrag sie arbeiten – nicht im Auftrag der Partei, nicht im Auftrag der Regierung, sondern nur im Auftrag der Bürger. Und Komplimente drechseln sie zur Genüge, vor allem Selbstkomplimente ohne jede faktische Grundlage. Man muss es zugeben: Auch Taten haben wir gesehen, dazu geeignet, ein Land und eine Gesellschaft gründlich zu ruinieren, ohne etwas zur allgemeinen Gesundheit beizutragen, in der Regel völlig unnütz und mit verheerenden Folgen. Es wäre dringend an der Zeit, nun endlich „etwas Nützliches geschehn“ zu lassen. Eine sinnlose und nicht begründbare Impfpflicht gehört nicht dazu.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Text: Gast
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