Corona macht krank, Corona kann töten.
Corona ist schlimm, verändert die Gesellschaft und das Leben. Darüber berichten wir. Geschichten, die Corona schreibt. Geschichten, die es nicht in die Medien schaffen. Wir geben Zahlen einen Namen und eine Seele. Die Serie „Kollateralschaden“ basiert auf Berichten Betroffener der Coronapolitik, damit keiner sagen kann: „Das haben wir nicht gewusst!“
Wir schreiben auf: Johanna Wahlig (Politologin, Journalistin, Unternehmerin) und Frank Wahlig (Historiker und 30 Jahre ARD-Hauptstadtkorrespondent) recherchieren für reitschuster.de. Wer aus seinem beruflichen oder privaten Leben einen „Kollateralschaden“ melden möchte: Vertraulich und persönlich, per E-Mail an [email protected].
Der alte Mann
Von Johanna und Frank Wahlig
Der alte Mann ruft an. Er ist kaum zu verstehen. Seine Stimme klingt tränenerstickt. Immer wieder macht er Pausen, um sich zu sammeln. „Können Sie sich an mich erinnern?“, fragt er. „Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie meinen Bruder beerdigt,“ sagt er. „Jetzt ist meine Frau verstorben.“ Annette fährt zu ihm.
Annette ist „Trauerrednerin“. Annette sieht nicht aus, wie man sich eine „Trauerrednerin“ vorstellt. Annette ist Pianistin, Kampfsportlerin, Trainerin und … Trauerrednerin. Seit achtzehn Jahren begleitet sie Kinder, Eltern, Angehörige auf dem letzten Weg. „Nicht jedes Begräbnis kann man sich merken“, sagt sie. Die Geschichte vom alten Mann aber würde sie nicht vergessen.
Der alte Mann öffnet Annette die Tür. „Als ich in seine Augen sah, traf mich die Verzweiflung, die daraus sprach, mit voller Wucht“, erinnert sich Annette. Sie folgt ihm ins Wohnzimmer. Der alte Mann fängt leise an zu erzählen.
Vor 57 Jahren heiratet er seine Frau. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Beide sind jung. Sie schaffen es, „aus ganz wenig“ ein bescheidenes, doch schönes Leben aufzubauen. Gemeinsam schicken sie Sohn und Tochter auf einen guten Lebensweg. Sie leben vor, wie wichtig es ist, füreinander da zu sein, sich hilfsbereit zur Seite zu stehen. Sich immer aufeinander verlassen zu können. Niemals habe der eine den anderen fallen gelassen. Hand in Hand seien sie durch die Zeit gegangen und haben es geschafft, sich ihre Liebe zueinander zu bewahren, erzählt der alte Mann. 57 Jahre lang.
Sie versprechen sich, den anderen auf keinen Fall allein zu lassen, sollte einer gehen müssen.
Die Frau wird krank. Ein Krankenhausaufenthalt ist erforderlich.
Der alte Mann wird gezwungen, sein Versprechen zu brechen. Er lässt seine Frau auf dem Sterbebett allein. Die Frau ruft immer wieder nach ihm, erzählt eine Schwester im Krankenhaus. Doch er darf nicht zu ihr. Die Coronabestimmungen untersagen ihm, das Krankenhaus zu betreten. Am Telefon sagt der Arzt, dass es nicht gut um seine Frau stehe. Er müsse sich auf das Schlimmste gefasst machen.
„Das Schlimmste“ für den alten Mann war nicht, dass sie sterben muss; das Schlimmste für ihn war, dass er sie nicht begleiten durfte. Das hatte er ihr doch versprochen!
„Der Mann weinte und konnte nicht mehr aufhören,“ erinnert sich Annette.
Am Tag der Beisetzung ist er ganz ruhig und schweigsam. Der alte Mann erscheint gefasst und entschlossen.
Zwei Tage später ruft der Bestatter bei Annette an. Der alte Mann hatte sich erhängt. Der alte Mann hieß Wolfgang. Er wurde 82 Jahre alt.
PS: Die Berliner Feuerwehr hat im aktuellen Jahr einen massiven Anstieg bei Einsätzen unter dem Einsatzpunkt „Beinahe Strangulierung/ Erhängen, jetzt wach mit Atembeschwerden“ zu verzeichnen. Während es 2018 sieben solcher Einsätze und 2019 drei gab, waren es 2020 allein bis Oktober 294 Einsätze. Auf Nachfrage in der Bundespressekonferenz von reitschuster.de nach aktuellen Suizid-Zahlen in Deutschland teilte das Gesundheitsministerium mit, solche lägen derzeit nicht vor.
Wir haben uns in diesem Fall entschieden, über das Thema Suizid zu berichten – insbesondere, weil eine große gesellschaftliche und politische Relevanz vorhanden ist. Leider kann es passieren, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111oder 0800 1110222.
Text: Johanna und Frank Wahlig
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