In seinem neuen Buch seziert Josef Kraus die Obrigkeitshörigkeit in Deutschland – die in Corona-Zeiten fröhliche Urstände feiert. Ein Anlass, dem Phänomen mit ihm in einem Interview auf den Grund zu gehen.
BORIS REITSCHUSTER: Sie spielen mit Ihrem Titel auf das Buch „Der Untertan“ von Heinrich Mann an. Warum?
JOSEF KRAUS: Weil die Hauptfigur dieses Romans, Diederich Heßling, der typische deutsche Untertan ist: nach oben bedingungslos buckelnd und – als Parvenü nach oben gekommen – nach unten tretend. Für ihn besteht das „deutsche Wesen“ als „Verehrung der Macht, der von Gott geweihten Macht, gegen die man nichts machen kann“. Durch Duckmäusertum und eiserne Kaisertreue bringt er es zum funktionierenden Rädchen im Obrigkeitsstaat. Schon als Student hatte er diese Macht bewundert. Als Kaiser Wilhelm 1892 am Brandenburger Tor an ihm vorbeiritt, bewundert er die „Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen!“ Der Kaiser ist für Heßling die „persönlichste Persönlichkeit.“ Parallelen zu gewissen Huldigungen real Regierender erspare ich mir.
REITSCHUSTER: Wie sieht die Version von Heinrich Manns Diederich Heßling 2021 aus?
KRAUS: Er ist der regierungstreue Untertan von der Stange, zu Tausenden auffindbar: in den Parteien, in den Parlamenten, in den Kirchen, in Hochschulen und Schulen, in den Medien, vor allem den öffentlich-rechtlichen und im Mainstream der meisten Printmedien. Der Diederich Heßling anno 2021 dient sich der Macht an. Er schwimmt mit im Strom, seine Haltung ist rundgelutscht bis zur Profillosigkeit, er will nirgends anecken, nicht auffallen, damit Karriere machen und zugleich Millionen nach seinem Ebenbild erziehen. Schauen Sie sich doch nur die Redaktionsleiter bestimmter ARD/ZDF-Magazine an. Sie gerieren sich als Leithammel-Untertanen und sind doch kaum anderes als Politkommissare. Sie nennen es „Haltung zeigen“, betreiben aber subtil und trickreich Hetze gegen alles, was angeblich rechts von Merkel steht.
REITSCHUSTER: Neigt der typische Deutsche immer noch dazu, ein „Untertan“ zu sein? Wenn ja, warum?
KRAUS: Es scheint immer noch zu gelten, was Heinrich Heine vor fast zweihundert Jahren über den typischen Deutschen schrieb. „Der Deutsche gleicht dem Sklaven, der seinem Herrn gehorcht ohne Fessel, ohne Peitsche, durch das bloße Wort, ja durch einen Blick.“ Warum? Weil es so bequem ist, unmündig zu sein, wie Immanuel Kant 1784 feststellte. Der Deutsche will seine Ruhe haben. Wenn er als „gehorsames Haustier“ seine „komfortable Stallfütterung“ (Begriff von Wilhelm Röpke) hat, ist er zufrieden. Dann lässt er sich jede Bevormundung gefallen, aktuell etwa im Zusammenhang mit Corona oder Klimawandel oder Rundfunkzwangsgebühren oder Zensur in den digitalen Medien. Mit einem Anteil von weit über 80 Prozent wählt er dennoch entsprechend. Er wählt den Obrigkeits- und Ameisenstaat.
REITSCHUSTER: Warum sind viele Deutsche so unausgegoren?
KRAUS: Weil die Deutschen nie zu sich selbst gefunden haben. Erst wurden sie von der Reformation und vom Dreißigjährigen Krieg zerrissen. Die Zersplitterung dessen, was Deutschland hätte heißen können, in zig Fürstentümer hat zig regionale Autoritäten geschaffen. Freiheitsbewegungen im 19. Jahrhundert sind zumeist erbärmlich gescheitert. Der weltweit einmalige Aufschwung im Kaiserreich wird heute ignoriert oder gar zerredet. Dann kam der deutsche Größenwahn ab 1914 und ab 1933. Dann gingen die Deutschen erzwungenermaßen, aber auch freiwillig in Sack und Asche. So dass heute gilt: Deutschsein heißt, nicht deutsch sein zu wollen. Außer dass am deutschen Wesen das Klima genesen und nach deutschem Vorbild die Eine Welt, eine Welt ohne Grenzen, errichtet werden möge.
REITSCHUSTER: Welche Rollen spielten/spielen die Kirchen?
KRAUS: Die katholische Kirche hat sich in der Vergangenheit immerhin gegen Bismarck, gegen die Nationalsozialisten, gegen das DDR-System aufgelehnt. Die evangelische Kirche war in großen Teilen brav staatstreu. Gewiss ist Kirche als institutionalisierte Religion zu unterscheiden vom persönlichen Glauben. Heute muss man sagen: Wer immer noch meint, Kirche habe mit Glauben, mit der Bibel, mit Gott zu tun, ist naiv. Nein, unsere Kirchen sind zu politisierenden NGOs verkommen. Früher sagte ich mal: Wer auf einen evangelischen Kirchentag geht, kann gleich auf einen grünen Parteitag gehen. Heute muss ich sagen: Auch die Katholikentage unterscheiden sich davon kaum noch. Eine psychiatrisch auffällige heranwachsende Schwedin wird von Kirchenfürsten zur Prophetin ernannt und mit Jesus verglichen. Oberste Kirchenfürsten spenden für Schleuserboote im Mittelmeer, in einer Bundespressekonferenz legen sie ein Bekenntnis zu Merkel ab, in Jerusalem auf dem Tempelberg legen sie ihr Bischofskreuz beiseite. Nein, für so etwas brauchen wir keine Kirchensteuer.
REITSCHUSTER: Was meinen Sie mit neuen ersatzreligiösen Ismen?
KRAUS: Der Mensch braucht Religion, Rückbindung, Sinnvermittlung über das Diesseitige hinaus. Da die christlichen Kirchen das offenbar immer weniger leisten (wollen), sucht sich der Mensch neue Religionen: Ersatzreligionen, diesseitige Zivilreligionen. Die entsprechenden „Sinn“-Vermittler stehen bereit. Sie diktieren den Menschen, vor allem den Menschen im Westen der Welt, besonders aber in Deutschland, womit sie sich zu identifizieren haben – mit jeder Menge an hochideologischen Ismen, also autoritären Denkmustern: mit Antifaschismus, Antirassismus, Multikulturalismus, Egalitarismus, Humanitarismus, Universalismus, Kosmopolitismus, Pazifismus, Genderismus. Das sind die neuen vermeintlichen Heilslehren.
REITSCHUSTER: In meinem Blog haben Sie vom deutschen Autorassismus geschrieben. Jetzt im Buch wieder, warum?
KRAUS: Der Begriff Autorassismus ist eine Anspielung auf den gängigen Begriff Autoaggression. Letzterer besagt, dass sich manche Menschen in extremer Form bis hin zum Suizid selbst Gewalt antun, in harmloserer Form sich selbst nicht ausstehen können. Auf die Deutschen bezogen heißt das: Sie dürfen und mögen sich nicht mögen, sie sollen ständig auf Sündenstolz machen, sie sollen sich selbst hassen und von der Erde verschwinden wollen. „Grüne“ Politiker und Publizisten marschieren voran, indem sie Vaterlandsliebe „zum Kotzen“ finden (Robert Habeck) oder hinter Transparenten hinterhertrotteln mit den Aufschriften „Deutschland verrecke“ usw.
REITSCHUSTER: Sie prägen das Wort Islamophilismus: Was meinen Sie damit?
KRAUS: Die Deutschen haben seit Jahrhunderten ein seltsames Verhältnis zum Islam. Lessing setzte den Islam mit dem Christentum und dem Judentum gleich. Hitler mochte die „Mohammedaner“ als Verbündete gegen die Juden. Die 68er mochten die Palästinenser wegen deren Hass auf Israel. Heute machen alle inkl. christliche Kirchen auf „Dialog“. Krampfhaft versucht man, Islam und Islamismus zu unterscheiden. Islam sei ja Frieden, Islamismus eine terroristische Entartung. Aber: Im Arabischen gibt es keine Unterscheidung von Islam und Islamismus. Anders ausgedrückt: Islamismus ist die Reinform von Islam. Alles, was die Scharia an menschen- und frauenverachtenden Praktiken mit sich bringt, wird ignoriert: Ehrenmorde, Kinderehen, Mehrfachehen, Genitalbeschneidungen usw. Aber der Deutsche hat das „kultursensibel“ als Bereicherung zu sehen, ja gar zu mögen. Deshalb der Wortbestandteil „Islamo-Philismus“.
REITSCHUSTER: Sie sprechen vom „volkspädagogischen Nanny-Staat“. Was konkret meinen Sie damit, wie funktioniert er?
KRAUS: Vor allem unter Linken gedeiht ein neuer autoritärer Charakter prächtig. Er empört sich über schlecht getrennten Müll und SUV-Fahrer. Man giert geradezu nach Verboten: Was man essen und trinken soll, dass man nicht rauchen soll, dass man keine Kreuzfahrt machen soll. „Verbietet uns was!“ steht auf Schildern von sog. Klimaaktivisten. Ein gefühliges neues Gouvernantentum ist entstanden. Zugedeckt werden all diese Verlogenheiten mithilfe politisch korrekter Semantik: „No to racism!“ „Refugees Welcome!” ”Black Lives Matter” (BLM)! Tragt Regenbogenmasken! Für Diversität! Multikulturalität! Wer anders tickt, bekommt von den vielen Nannys eine heftige Ermahnung oder gar eine Denunziation verpasst. Mittlerweile gilt schon als Nazi, wer gegen den Gender-Irrsinn argumentiert. Es reicht, kritische Worte über Merkels Grenzöffnung zu äußern. Oft genügt der Vorwurf der „Kontaktschuld“, wenn man auf Facebook oder Youtube oder Twitter ein politisch inkorrektes LIKE gibt. Will sagen: Im Namen der sogenannten Zivilgesellschaft werden die Toleranz-Gouvernanten immer intoleranter und immer reaktionärer.
REITSCHUSTER: Wie steht es mit der Gewaltenteilung? Und der 4. Gewalt, also den Medien?
KRAUS: Die Gewaltenteilung sehe ich fast nur noch auf dem Papier existieren. Die Exekutive, vor allem das Kanzleramt oder eine bayerische Staatskanzlei, bestimmt, was die Parlamentsmehrheit, also die Legislative abzunicken hat. Der Bundesrat als Vertretung der Länder und Hüter des Föderalismus hat sich oft genug gleichgeschaltet. Das Bundesverfassungsgericht ist zur Beute der herkömmlichen Parteien und damit zu einem regierungstreuen Akklamationsgericht geworden – entsprechend personalpolitisch besetzt. Man nehme allein die jüngste Rechtsprechung in Sachen Klima, Rundfunkgebühren und EU-Transferunion. Und die so genannte vierte Gewalt ist ein Totalausfall. Kritik an der Regierung? Fehlanzeige! Hofberichterstattungen und Merkel-Audienzen in den Talkshows sind angesagt.
REITSCHUSTER: Ist Merkel allein schuld an neuen Autoritarismen?
KRAUS: Dass sich Merkel als CDU-Vorsitzende und als Bundeskanzlerin immer und immer wieder autoritär durchsetzen konnte, hat zum einen mit ihrer Wendehalsigkeit zu tun. Man nehme allein die Themen Atomkraft, Zuwanderung oder EU-Schuldenunion. Wer in ihrem Umkreis anders dachte und redete, war schnell plattgemacht. Zum zweiten ist Merkel ein Medienprodukt. Die arrivierten Medien, ich nenne sie Apportiermedien, bauten einen Cordon Sanitaire um sie auf, und Merkel tat, was bei den überwiegend rot-grün gestrickten Medien gut ankam. Dadurch konnte Merkel ihr „Links schwenkt, Marsch!“ bis zuletzt durchsetzen. Und alles wird ihr nachgesehen: ihr aktiv schweigendes Desinteresse an den Mord- und Schandtaten muslimischer Täter an Frauen; ihr Kinobesuch, während deutsche Soldaten in Kabul unter Einsatz ihres Lebens deutsche Staatsbürger retten, und immer wieder ihre Herrschaft des Unrechts. Ihre Partei, die CDU, wird sich davon lange nicht erholen. Die CSU, die sich ihr mit Söder unterworfen hat, auch nicht.
REITSCHUSTER: Gibt es noch Mittel dagegen? Wie retten wir die Demokratie?
KRAUS: Es wird sehr, sehr schwer. Denn was sich hier breitgemacht hat, hat sich in den Köpfen von mindestens zwei bis drei Generationen festgesetzt. Wahrscheinlich geht es uns einfach noch zu gut. Es wird ein Bohren dicker Bretter werden: Für mehr Freiheit und Eigenverantwortung! Für Rationalität statt Beliebigkeit und Hypertoleranz! Wir brauchen gebildete Eliten und mutige, konservative Intellektuelle! Wir brauchen aufklärerische, solide Bildung, denn nur ein dummes Volk regiert sich leicht. Und wahrscheinlich brauchen wir neben den mehr und mehr zu Blockparteien verschmelzenden Alt-Parteien (die Grünen gehören längst dazu) neue, erfolgreiche Parteigründungen.
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Text: br