Der Feind des Feindes und dessen fünfte Kolonne Warum (Ost-)Deutschland so ein fruchtbarer Boden für die Kreml-Narrative ist

Immer wieder wundere ich mich, warum gerade in den neuen Bundesländern – wenn diese Bezeichnung überhaupt noch politisch korrekt ist, denn eigentlich ist sie ja falsch – das Verständnis für Putin besonders groß ist. Denn dieses Phänomen steht in eklatantem Gegensatz zu dem, was in fast allen anderen osteuropäischen Ländern geschieht, die früher unter sowjetischer Besatzung litten: Dort herrscht ein sehr weitreichender Konsens in der Verurteilung von Wladimir Putins aggressiver Politik. Fragt man Menschen dort nach dem Grund für diesen Konsens, ist die Antwort sinngemäß fast immer gleich: Wir haben den russischen Imperialismus am eigenen Leib erfahren müssen. Warum in der DDR dieser Konsens nicht vorhanden ist und deutliche Sympathien für einen Kreml-Herrscher vorhanden sind, der die Tradition von Stalin wiederaufleben lässt. Ausgerechnet von dem Tyrannen, der in der DDR eine blutige Diktatur errichtete. Diese Frage bewegt mich seit langem. Nachdem mir Hans-Hasso Stamer, der aus DDR-Zeiten vielen noch als Musiker bekannt ist, einen bewegenden Antwortbrief auf mein Wochenbriefing geschickt hatte, bat ich ihn, seine Gedanken noch weiter auszuführen und einen ganzen Artikel zu schreiben. Das Resultat hat mich beeindruckt und war für mich sehr lehrreich. Hier der Text von Hans-Hasso Stamer:

Letzten Montag war ich wieder einmal unterwegs auf dem wöchentlichen Spaziergang. Der Grund ist nach wie vor der übergriffige Staat, nicht nur beim Impfen. Darin sind sich alle Teilnehmer einig. Aber diesmal ging ich mit einem Mann zusammen, mit dem ich in heftigen Streit geriet. Der entzündete sich an der Frage der schweren Waffen für die Ukraine und ich stellte fest, dass ich es mit einem überzeugten „Putinversteher“ zu tun hatte. Ich wusste schon vorher, dass er nicht der einzige ist.

Die gibt es im Osten tatsächlich besonders zahlreich. Für mich ist das kein Wunder.

Reputation dort, wo die Gegenseite Propaganda liefert

In Deutschland wird Putins politische Sicht vor allem durch Russia Today und Sputnik verbreitet. Dabei steht fest: RT hat mit seiner Propaganda eine offene Flanke der medialen Realitätsabdeckung in Deutschland getroffen. Ich beobachte schon seit Jahren, dass diese Propaganda hier auf fruchtbaren Boden fällt. Ich mag mich gar nicht mit allem auseinandersetzen, was aus dieser Ecke ständig geliefert wird.

Aber das Konzept ist so geschickt wie wirkungsvoll: Dort, wo die deutschen Medien nur Propaganda liefern, bringt RT die bessere Berichterstattung. Beispiele: Querdenkerdemos, AfD oder auch Interviews mit „gecancelten“ Persönlichkeiten. Solche Informationen fehlen und werden im Internet gezielt gesucht. Und dann wird von RT die eigene Propaganda in Bezug auf die Ukraine oder die NATO in diesem Paket mit verkauft. Man erwirbt sich also Reputation dort, wo die Gegenseite Propaganda liefert und benutzt diese dann, um die eigene Propaganda mit unterzujubeln. Dieses Konzept scheint aufzugehen. Auf den ersten Blick ist RT eine absolut seriöse Nachrichtenseite. Das gilt aber nur außerhalb der Themenbereiche, die Putins Interessen direkt berühren, also Ukraine, NATO, USA.

Im Osten funktioniert das besonders gut, denn dort wird die Propaganda der eigenen Medien aufgrund der Erfahrungen in der DDR tendenziell eher erkannt als im Westen. Also ist das Bedürfnis nach alternativen Informationsquellen prinzipiell größer als im Westen. Die Verifizierung findet im eigenen Lebensbereich statt, also bei „deutschen“ Themen, wie AfD oder Corona. Da punktet RT. Man ist generell kritischer, was die etablierten Medien betrifft, die man inzwischen immer mehr in der Nähe der „Aktuellen Kamera“ verortet. Die subtile Diffamierung ostdeutscher politischer Erscheinungen spätestens seit Pegida hat diese Tendenz noch verstärkt.

Spätfolge der westlichen Ignoranz

Das ist aber nicht alles. Das würde den großen Erfolg noch nicht erklären. Es kommt noch ein wichtiger Moment hinzu: Meine Generation ist mit der Wende nach 1989, als sie um die 40 war, so fürchterlich in den Allerwertesten getreten worden, wie es sich kaum jemand im Westen vorstellen kann. Was es wirklich bedeutet, in der Mitte des Lebens jeglichen Boden unter den Füßen zu verlieren, nicht nur den Job, sondern den Beruf, und zwar nicht nur als Einzelner, sondern als Massenerscheinung, das kann ich mir ja selber kaum noch vorstellen.

Es war aber auch wie eine vollständige Demaskierung des Westens, wie er sich selber sah. Wir wollten die Freiheit und bekamen die vollständige Entwertung der gesamten bisherigen Lebensleistung. Das Bild vom Westen, wo jeder seine Chance bekommt, entpuppte sich in der Realität als eine Gesellschaft, in der wir, die mittlere Generation, keine Chance mehr hatten. Wir waren zu jung für die Rente und zu alt für den Arbeitsmarkt.

Und die Putin-Affinität ist auch eine Spätfolge davon. Eine Spätfolge der westlichen Ignoranz gegenüber den Lebensleistungen der mittleren Generation im Osten. Schon einmal kam der Retter aus dem Osten, damals hieß er Gorbatschow.

Ich habe jedenfalls zwei Freunde, bei denen das dezidiert der Fall ist. Einer ist nach der Wende (er hatte ein Seefahrtspatent, war also nicht in der DDR eingesperrt) nach Australien ausgewandert. Nach eigenem Bekunden wollte er nicht „Bürger der BRD“ werden, da er dieses System ablehnt. Er ist ein regelrechter USA-Hasser. Er ist noch heute linksradikal und ganz auf der Seite Putins. Außerhalb dieser politischen Prägung ist er aber ein ganz normaler, hilfsbereiter und verlässlicher Mensch.

Ein anderer war ein Funktionsträger in der DDR, der sich schon jahrelang vorwiegend an RT Deutsch orientiert. Mit ihm, obwohl hochgebildet und interessiert, kann ich über Politik kaum noch sprechen. Das Thema „Israel“ zum Beispiel muss ich vollständig vermeiden, da es sofort zur Eskalation kommen würde. Und bei der Ukraine mache ich das schon von mir aus.

Da sind wir uns alle einig.

Beide lehnen übrigens trotz eigener linker Verortung den neulinken Wokismus vehement ab. Das betrifft das Gendern genauso wie die Masseneinwanderung und den erweiterten Rassismus-Begriff. Und Phänomene wie Greta oder Autobahnkleber werden einhellig nur noch als Zeichen von Wohlstandsverwahrlosung wahrgenommen. Da sind wir uns alle einig.

Meine Vermutung besteht also darin, dass es die fehlende Anerkennung der Lebensleistungen in der DDR war, die zumindest in meiner Altersgruppe die Putin-Affinität erheblich befördert. Diese Abwertung betrifft alle, sowohl Linke- als auch AfD-Wähler gleichermaßen, und so gibt es diese Haltung sowohl links, als auch rechts. Ich selber werde jeden Monat daran erinnert, wenn ich die horrende Summe von 650 Euro auf meinem Rentenkonto finde. Und nein, die Grundrente, von der vor zwei Jahren dauernd die Rede war, ist nie bei mir angekommen.

Ich war sicher kritischer der DDR gegenüber als die beiden oben genannten Freunde. Für mich war das Thema Sozialismus schon mit dem Einmarsch der Sowjets in Prag erledigt. Und im Studium habe ich dann tatsächlich Lenin gelesen und war entsetzt. Aber es gibt hier nach wie vor viele, die tatsächlich auch nach 28 gescheiterten Versuchen in der Weltgeschichte noch glauben, dass es nur daran liegt, dass der Sozialismus noch nicht wirklich richtig versucht wurde. Gerade in meiner Generation. Und da soll es ja auch im Westen sehr viele geben, nicht nur mit Vornamen Kevin.

Aber es ist nicht nur die fehlende Anerkennung. Es gibt noch eine Erfahrung, die man nur hier im Osten gemacht hat und die man sich im Westen nicht so recht vorstellen kann. Zwar wusste jeder, dass es den goldenen Westen so nicht gibt. Dass aber die Selbstdarstellung des Westens so brachial vom real erfahrenen Westen nach der Wende abweichen würde, wie es dann tatsächlich der Fall war, das konnte man sich dann im Osten doch nicht vorstellen. Es war wie ein Hochglanzwerbevideo einer maroden, halb insolventen Schwindelfirma.

Reste dieser verbogenen Selbstsicht gibt es noch heute. Die Pandemie hat es doch gezeigt, was die „Werte des Westens“ wert sind: Nicht einmal das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist noch sicher. Soweit ist nicht mal die Stasi gegangen! Jedenfalls nicht bei Normalbürgern. Grundrechte wurden abgeräumt wie Papierschlangen zu Neujahr. Etwa ein Drittel der Menschen fühlt sich nach einer neueren Befragung in einer Fassadendemokratie. Da wird die allenthalben reklamierte moralische Überlegenheit zur Farce.

Der Westen funktioniert anders

Das haben hier im Osten viele verinnerlicht. Der innere Abstand zum Staat ist wesentlich größer. Die West-Ressentiments haben sich nur von den konkreten Wessis sozusagen wegverlagert in den politischen Bereich. Putin brauchte sie nur aufzusammeln. Logisch, dass das im Westen nicht so funktioniert.

„Wertewesten“ wird in gewissen Kreisen nur noch ironisch verwendet. Dabei sind sich Linkswähler und AfD-Wähler ziemlich einig. Die einen stoßen sich am realen Brutalkapitalismus, in dem sie für sich keine Chance sehen, die anderen an der Paralyse der Gesellschaft durch fortgesetzte Masseneinwanderung, die die Zukunft Deutschlands gefährdet. Dagegen ist doch das Russland Putins wenigstens noch eine richtige Nation. Eine schleichende Desavouierung und Delegitimierung jeglichen Patriotismus wie in Deutschland hat es in Russland nie gegeben. Noch ein Punkt für Putin. Dessen brutales Inlandsregime dringt ja hier in Deutschland nur Wenigen ins Bewusstsein.

Mit den beiden Freunden hat es heftige Kontroversen bis hin zu langen Pausen gegeben, aber wir sind noch heute befreundet. Es knirscht allerdings immer wieder mal laut.

Nein, eine fünfte Kolonne hat Putin im Osten nicht. Aber er hat viele Freunde. Endlich jemand, der dem herrschenden System, das man seit Corona endgültig nicht nur als manipulativ, sondern als knallhart unterdrückend wahrnimmt, den ausgestreckten Mittelfinger zeigt. Und wenn die deutsche mediale Propaganda in ihrem gleichgeschalteten woken Wahn so weitermacht, bekommt er noch viel mehr. Es sind keinesfalls nur die objektiven Verlierer der Transformation nach der Wende, die so gestrickt sind.

Putin ist nicht Gorbatschow. Aber schon Gorbatschow hatte genau dieselbe Funktion zur Zeit in der Wende in der DDR. Und heute ist es nun der ungleich gefährlichere Putin. Die psychologischen Ursachen sind aber ähnlich. Wie auch in der DDR ist die Anpassung nur oberflächlich – unter der Oberfläche brodelt es.

Die klassischen Medien könnten ganz leicht dagegenhalten. Das würde auch Putins Wirkung begrenzen. Sie müssten einfach wieder authentischer werden. Raus aus der Blase und Schluss mit Erziehung und woker, grüner Ideologie. Leider ist das Gegenteil zu erwarten.

Putin wird gerade zum Gegenpol all dessen, was es an Demütigungen im real existierenden Westen für Ossis gegeben hat. Man demütigt nicht Millionen Menschen ohne Wirkung. Und nicht nur das: Spätestens seit Corona ist für viele der Staat auch nicht mehr der Freund. Das ist dann der Feind des Feindes. Das P-Wort, Sie wissen schon.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Hans-Hasso Stamer ist Diplomingenieur, Blogger und Musiker (und war als solcher in der DDR bekannt). Über sich schreibt er: „Erfahrungen in zwei Systemen und in verschiedenen Berufsfeldern. Ich lebe ‚jottwede‘ im Land Brandenburg und genieße es. Manchmal schreibe ich auch über Katzen.“ Stamer betreibt den Blog »Splitter & Balken«.

Bild: Shutterstock 
Text: br/Gast

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