Der Kongress-Sturm und die Scheuklappen unserer Medien Jahrelanges Wegsehen und seine Folgen

Die Ereignisse in den USA sind dramatisch. Wenn gewaltbereite Demonstranten ein Parlament stürmen, wenn es dort zu Exzessen kommt, dann kann das keinen aufrechten Demokraten gleichgültig lassen. Aber einen aufrechten Journalisten kann es auch nicht gleichgültig lassen, wie die Mehrzahl der deutschen Medien die Lage in den Vereinigten Staaten seit langem völlig einseitig darstellt. Auch deshalb ist sie jetzt so überrascht über die schrecklichen Bilder aus Washington. Auf meiner Seite war bereits vor Wochen die Frage aufgeworfen worden, ob den USA ein Bürgerkrieg droht (siehe hier).

Eine wirklich kompetente Einordnung der Ereignisse in den Staaten maße ich mir nicht an. Ich kritisiere, wenn Kolleginnen und Kollegen sich mit dem Anschein von Kompetenz zu Themen äußern, in denen sie nicht wirklich bewandert sind. Bei Russland und Osteuropa erlebe ich das ständig. Deshalb nur so viel: Was ich auch als nicht mit den USA vertrauter Journalist einschätzen kann, ist eine völlig einseitige Berichterstattung in fast allen unseren Medien. Ich traue mir kein Urteil zu, ob in den USA bei den Wahlen betrogen wurde oder nicht. Ich finde es aber auch erstaunlich, dass sich so viele Kollegen hier im Besitz der Wahrheit wähnen. Und nicht zumindest nach dem Prinzip, immer beide Seiten zu hören, auch die Vorwürfe sachlich wiedergeben, statt sich nur über sie zu empören oder sie lächerlich zu machen (wie hier auf meiner Seite geschehen, hier, hier und hier).

Was besonders schwer wiegt: Die tieferen Ursachen für die Gewalt-Exzesse werden weitgehend ausgeblendet. Statt dessen fallen viele Kolleginnen und Kollegen in ein geradezu infantiles Gut-Böse-Denken zurück. Gewalt entsteht da, wo sich in einer Gesellschaft Teile von ihr unterdrückt fühlen. Wo sie ihre Interessen ignoriert sehen, und keinen anderen Ausweg mehr zu haben glauben als Gewalt. Das entschuldigt diese nicht. Aber es ist wichtig, das zu verstehen. Dass nun ausgerechnet diejenigen, die sonst bei jedem Schwerkriminellen gerne relativierend auf die schwere Kindheit und die Schuld der Gesellschaft hinweisen, hier im Bezug auf ganze Gruppen der US-Gesellschaft genau die gegenteilige Position vertreten, wäre fast schon zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

Die US-Gesellschaft ist so tief gespalten, dass die Zukunft nichts Gutes bringen wird. Völlig vernachlässigt wird in den deutschen Medien auch, dass mit dem vermeintlichen Heilsbringer Joe Biden jemand ins Weiße Haus einzieht, der als Vizepräsident von Barack Obama genau für die Fehlentwicklungen steht, die Trump 2016 zum Wahlsieg verholfen haben. Insofern wird die Spaltung der Gesellschaft eher größer werden als kleiner. Dies nüchtern zu betrachten, statt kleinkindisch in Gut und Böse aufzuspalten, wäre auch sehr lehrreich im Hinblick auf entsprechende Gefahren in der Bundesrepublik.

Die Reaktionen in Berlin zeigen, wie groß die Angst unserer Politiker vor Ereignissen wie den USA ist. Noch halte ich diese Angst für überzogen. Aber auch bei uns könnte sich die Situation zuspitzen. Gerade angesichts einer strikten Corona-Politik. Außenminister Heiko Maas (SPD) nannte die Ereignisse in den USA gar in einem Atemzug mit der Posse um den vermeintlichen Reichstagssturm im August (wobei als Gemeinsamkeit hier wie dort auffällt, dass die Herzstücke der Demokratie trotz angekündigter Proteste so gut wie ungeschützt waren, was zumindest merkwürdig ist). Maas offenbarte damit einen massiven Realitätsverlust. Washington, wo es – leider – einen echten „Sturm“ gab, zeigt, wie absurd und völlig überzogen die Berichterstattung im August war.

Der Bundestag will einen 2,5 Meter tiefen und 10 Meter breiten Graben um den Reichstag ziehen lassen. Weitaus dringender wäre es, endlich die Politik der massiven Spaltung der Bevölkerung zu beenden. Menschen mit anderen Meinungen nicht zu diffamieren, sondern sie einzubinden in den demokratischen Prozess. Wenn das nicht geschieht, könnten selbst in Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft „amerikanische Verhältnisse“ drohen.

PS: Ich habe ein kurzes Interview mit Prof. Dr. Max Otte gemacht, der auch die US-Staatsbürgerschaft besitzt und lange in den USA lebte. Es wird heute Abend als Video erscheinen; hier auf der Seite kommt auch eine kurze Zusammenfassung als Text. Schauen Sie rein!

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Bild: zimmytws/Shutterstock
Text: br


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