Von Ekaterina Quehl
Wladimir Pastuchow ist Politologe und Jurist und ist Senior Fellow des University College of London. Er war in einer beratenden Funktion für das Verfassungsgericht Russlands tätig. Er schrieb regelmäßig für die Nowaja Gaseta – eine der letzten kritischen Zeitungen in Russland, die massiv unter Beschuss stand und kurz nach Kriegsbeginn schließen musste und für die auch Boris Reitschuster tätig ist. Pastuchow war regelmäßig Gast beim regierungskritischen Sender Echo Moskau und gibt immer noch regelmäßig Interviews, unter anderem zum Krieg in der Ukraine, auf Ersatzkanälen des Senders nach seiner Schließung im März 2022. Pastuchow schrieb mehrere Bücher und verfasste mehrere wissenschaftliche Artikel zu verfassungsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Fragen. Für mich ist er einer der klügsten Köpfe in Sachen Russland, seine Einschätzungen halte ich für überaus interessant. Ich habe diesen Text für Sie übersetzt, weil er sachlich und differenziert auf die Fragen rund um den Ukraine-Krieg eingeht, die auch viele unserer Leser bewegen.
Nach meiner Sendung haben sich viele unbeantwortete Fragen angesammelt. So bitten mich viele Zuhörer, den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine mit dem Vorgehen der NATO im Kosovo und der Bombardierung Belgrads zu vergleichen. Das Vorgehen Russlands in der Ukraine erinnert meines Erachtens nicht nur an das Vorgehen der NATO, über das viel und gerne in den Kommentaren geschrieben wird, sondern auch an das Verhalten Serbiens in diesem Konflikt. Es ist nur so, dass jeder auf seine Weise vergleicht. Ich war nie begeistert von der Entscheidung der NATO, sich in den Kosovo-Krieg einzumischen, sowohl aus rechtlichen als auch aus sachlichen Gründen. Darüber habe ich in meinem Beitrag „Das Balkan-Syndrom: Eine Krankheitsgeschichte“ geschrieben (wer möchte, kann es in der Zeitschrift „Polis“ für 1999 finden). Ich glaube immer noch, dass es einer der fünf Hauptfehler des Westens war, der die Bildung eines ultrarechten politischen Regimes in Russland stark beschleunigt hat. In keiner Weise erklärt und rechtfertigt es aber den Krieg mit der Ukraine. Hier sollte man „Fliegen und Frikadellen“ getrennt voneinander halten. Es ist nicht akzeptabel, seine eigenen Fehler und Verbrechen mit den Fehlern und Verbrechen anderer zu rechtfertigen, weder reale noch hypothetische.
Ich werde auch oft gefragt, warum ich nicht über das Problem der Krim, des Donbass und anderer russischsprachiger Enklaven in der Ukraine (einschließlich Nikolaev, Cherson oder Odessa) schreibe. Ich schreibe wirklich wenig darüber, aber nicht, weil es dieses Problem nicht gibt, sondern weil ich es nicht für primär halte. Bis 2014 war es nicht das „Problem“, sondern eine „Frage“. Keine größere Frage als ähnliche Fragen wie etwa bei jeder kulturellen Eingliederung in den Körper einer staatsbildenden Nation (Volk) irgendwo auf der Welt. In einer Krise, insbesondere einer Revolution, kann dieses Problem zu einem entscheidenden werden, aber ohne einen externen Faktor kann es nicht das Ausmaß eines Bürgerkriegs erreichen. Ohne einen ständigen Einfluss von außen hätte dieses Problem gelöst werden können.
Nicht weniger häufig werde ich auch nach ukrainischen Nationalisten und Faschisten gefragt. Sowohl die einen als auch die anderen gibt es in der Ukraine wirklich. Wie in Russland. Wie in Großbritannien. Wie in jedem Land der realen Welt. Aber diese Kräfte hatten nie einen dominierenden Einfluss auf die ukrainische Politik. Abgesehen davon, wenn Russland mit diesem Krieg etwas erreicht hat, dann nur, dass der Einfluss und die Popularität ultrarechter Ideen in der ukrainischen Gesellschaft sogar ein wenig gewachsen sind. Russland betreibt also weniger Entnazifizierung, sondern vielmehr Nazifizierung der Ukraine. Glücklicherweise war es bisher nicht erfolgreich.
Ich werde auch oft zum Thema die Opfer im Donbas angeschrieben. Es gibt sie wirklich und es gibt viele. Nachdem die Konfrontation hier zu einem offenen Bürgerkrieg plus Intervention und Besetzung eskaliert ist, ist die Zahl der Opfer – auch unter der friedlichen Bevölkerung – offensichtlich dramatisch gewachsen. Meine Vermutung ist, dass auf beiden Seiten Kriegsverbrechen begangen wurden – das ist leider die Natur des Krieges. Allerdings habe ich von Prozessen in der Ukraine gegen diejenigen gehört, die diese Verbrechen begangen haben, gehört, nicht aber über dergleichen im Donbass und in Russland. Es war verbrecherisch, diese Opfer als Vorwand für einen Angriffskrieg zu benutzen – der Krieg hat die Opfer nur vervielfacht, und das ist eine erwiesene Tatsache.
Heute ist der Krieg die Wurzel allen Übels. Deshalb rede und schreibe ich meistens über Krieg und wie man ihn stoppen kann. Ich idealisiere die Ukraine nicht. Dass es die „Sonnenstadt“ von Campanella ist, in der alle in Gerechtigkeit und Demokratie leben und alles koscher ist, denke ich nicht. Die Ukraine hat genug eigene Probleme. Ihre aufeinander folgenden Staatsoberhäupter hatten viele hässliche Dinge getan und trugen deshalb wesentlich dazu bei, dass sich das Land jetzt in dieser Situation befindet. Aber das ist kein Grund, seine Städte zu bombardieren.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Text: eq/Gast
Übersetzung: Ekaterina Quehl
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