Ein Gastbeitrag von Alexander Fritsch
„Ein guter TV-Experte muss schnell verfügbar sein, drei Sätze geradeaus sprechen können und sollte nicht aussehen wie eine Rotbauchunke.“
(Jörg Howe, Ex-SAT.1-Chefredakteur)
Karl Lauterbach hat gewonnen.
Der sozialdemokratische Chefapokalyptiker im Bundestag ist Talkshow-König 2020 (gemeinsam mit Wirtschaftsminister Altmaier). Vierzehnmal – in Zahlen: 14x – durfte er in diesem Kalenderjahr wiederholen, weshalb wegen Corona immer noch stärkere Freiheitsbeschränkungen, ein immer noch strikterer Lockdown und immer noch mehr staatliche Befugnisse nötig seien.
Lauterbach hat die Gunst der Stunde genutzt und sich in der Pandemie als epidemiologischer Experte inszeniert – der er gar nicht ist. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten sind derzeit aber offenbar zu sehr damit beschäftigt, dem gebeutelten Bürger noch mehr Zwangsgebühren aus der Tasche zu ziehen, als dass sie ihre Informationsaufgabe erfüllen könnten. Sonst wäre ihnen nicht entgangen, dass Lauterbach zwar auch mal Arzt war, aber seit Jahrzehnten als Gesundheitsökonom arbeitet.
Der Mann ist nicht Experte für Krankheiten, schon gar nicht für Seuchen, sondern im weiteren Sinne für Rechnungswesen im Gesundheitssystem. Auf der Liste seiner Fachveröffentlichungen stehen folgerichtig so spannende Werke wie „Krankenhausvergleich. Betriebsvergleich nach § 5 Bundespflegesatzverordnung“.
Trotzdem hat Lauterbach es geschafft, einen neuen Typus von Medienstar zu kreieren: den Politiker-Arzt – also den Politiker, der zufällig auch Arzt ist und der deshalb so tut, als sei er in der politischen Diskussion über medizinische Themen besonders kompetent, oder mehr noch: als habe er dafür eine besondere Autorität.
Das ist, mit Verlaub, nicht nur formal eine eklige Anmaßung, sondern auch inhaltlich grober Unfug. Politiker und Experten haben verschiedene Aufgaben. Beide Gruppen erfüllen die ihren derzeit nicht.
Entweder: Politiker tun so, als seien sie Experten
Damit verlassen sie, erstens, ihre demokratische Rolle, die ALLEIN ihre Legitimation ausmacht: Denn all die schönen Abgeordnetenprivilegien haben sie nur, weil sie das Volk vertreten sollen – und nicht, weil sie mal irgendeinen Beruf erlernt haben. Außerdem banalisieren sie, zweitens, echte Expertise: indem sie vorgeben, mit wirklichen Fachleuten auf einer Stufe zu stehen – was sie nicht ansatzweise tun.
(Damit ähneln sie übrigens vielen Journalisten, vor allem vielen Nachrichtenmoderatoren, die auch ständig so tun, als würden sie die Welt besser verstehen als ihre Zuschauer.)
Damit wären wir wieder bei Herrn Lauterbach (dem Politiker, nicht dem Schauspieler). Der hat, wie alle Politiker, vorrangig Politiker-Interessen. Die sind egoistisch und politisch und ganz bestimmt nicht wissenschaftlich. Wenn man einen Autohändler zu Fahrverboten befragt, dann wird wohl niemand auf den Gedanken kommen, der Mann sei ein unabhängiger Experte – denn er hat ganz egoistische Interessen: Autos verkaufen. Wenn man Lauterbach zu Corona befragt, dann sollte auch niemand auf den Gedanken kommen, der Mann sei ein unabhängiger Experte – denn er hat ebenfalls ganz egoistische Interessen: seine Wiederwahl und, damit zusammenhängend, seinen Aufstieg in der SPD.
Derselbe Lauterbach, der heute vor einer Überlastung der Krankenhäuser und vor Personalmangel auf den Intensivstationen warnt, empfahl noch vor Kurzem, massenweise Krankenhäuser zu schließen und Personal abzubauen. Das war damals die Position der SPD, und er vertrat sie. Heute ist die Position anders, und Lauterbach vertritt eben etwas anderes.
Warum nur tun wir so, als hätten Politiker andere als egoistische Interessen?
Oder: Politiker verstecken sich hinter Experten
Volksvertreter lagern ihre Entscheidung, für die sie gewählt sind, an alle möglichen nicht-gewählten Beiräte aus und ducken sich hinter deren Empfehlungen weg: Deutscher Ethikrat, Leopoldina oder (ganz schlimm) der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – dessen Prognosen im vergangenen Jahrzehnt regelmäßig so falsch waren, dass man diese sogenannten „Wirtschaftsweisen“ wahlweise wegen Scharlatanerie oder wegen arglistiger Täuschung strafrechtlich hätte belangen sollen.
Angela Merkel hat das System bis zur Perfidie perfektioniert: Ihre Regierung alimentiert mit öffentlichen Geldern sogenannte „wissenschaftliche Institutionen“, die von den staatlichen Zuschüssen abhängig sind. Die Institutionen, die die Regierung sich auf diese Art hält, werden dann damit beauftragt, ebendiese Regierung zu „beraten“ – und liefern, Überraschung, genau die Ratschläge, die der Auftraggeber (also die Kanzlerin) sich wünscht.
Mit diesen Gefälligkeitsgutachten in der Hand wedelt Frau Merkel dann herum und erklärt, ihre Politik sei alternativlos, „die Wissenschaft“ habe das bestätigt.
Nehmen wir zum Beispiel das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Es ist das größte sogenannte Wirtschaftsforschungsinstitut im viertgrößten Industriestaat der Welt. Die Einnahmen des DIW stammen zu 97 % aus öffentlichen Kassen; die Grundfinanzierung des Instituts bestreiten sogar ausschließlich der Bund und die Länder.
Nicht erst, aber vor allem seitdem ein gewisser Marcel Fratzscher das Institut leitet, bestehen dessen Veröffentlichungen maßgeblich darin, die Regierungspolitik zu loben – oder das zu fordern, was die Bundesregierung insgeheim will und sich derzeit noch nicht öffentlich zu sagen traut. Man wartet eigentlich nur noch darauf, dass Herr Fratzscher in Personalunion Regierungssprecher für Wirtschaftspolitik wird – also, offiziell: De facto ist er es ja schon längst.
Hier sieht man dann, dass das Problem zwei Seiten hat. Ja, Politiker verstecken sich hinter Experten – oder sie tun so, als seien sie Experten – oder beides. Aber die sogenannten Experten sind nicht besser.
Entweder: Experten folgen einer politischen statt einer wissenschaftlichen Agenda
Sie liefern statt Fakten nur Meinungen – und zwar obendrein nur solche, die ihrer eigenen Ideologie oder zumindest der ihrer Geldgeber entsprechen. DIW-Chef Fratzscher ist nur ein besonders ruchloser Vertreter dieses absurden Rollenverständnisses.
Was das DIW kann, kann freilich die „Nationale Akademie der Naturforscher“ Leopoldina schon lange. Sie veröffentlicht – zum Entsetzen einiger ihrer eigenen Mitglieder – eine Stellungnahme zur Unterstützung der Corona-Regierungspolitik. Zu so etwas haben deutsche Wissenschaftler sich zuletzt in den 1930er-Jahren hergegeben.
„Vergiss‘ nie die erste Regel der Politik: Wenn ich dich bezahle, dann arbeitest du für mich.“
(Robert Spalding – Tweet vom 19. Dezember 2020)
Nehmen wir auch den Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler. Der wird völlig zu Unrecht als unabhängiger Corona-Experte angesehen. Tatsächlich ist er Tierarzt, leitet eine Regierungseinrichtung und ist weisungsgebunden. Das heißt, seine Aufgabe, ja sogar seine dienstrechtliche Pflicht als Beamter ist es, die Regierungspolitik umzusetzen und öffentlich zu vertreten. Das kann man ihm nicht vorwerfen.
Vorwerfen muss man den Medien, dass sie den Mann zur wissenschaftlichen Instanz aufblasen, statt ihn als das darzustellen, was er ist: ein Behördenleiter.
Oder: Experten tun so, als seien sie Politiker
Damit verlassen sie, erstens, ihre akademische Rolle, die ALLEIN ihre Legitimation ausmacht: Denn all die schönen Wissenschaftsfreiheiten haben sie nur, weil sie der Erkenntnis dienen sollen – und nicht, damit sie Werbung für eine politische Position machen. Außerdem missbrauchen sie, zweitens, ihren privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit, indem sie nicht etwa Fakten für die politische Debatte liefern, sondern – mindestens auch, meistens leider aber nur – ihre Meinung.
Die Meinung eines Wissenschaftlers darüber, wie die Gesellschaft mit einem bestimmten Problem politisch umgehen sollte, ist in der Demokratie aber nicht wichtiger als die Meinung von irgendjemandem sonst.
Den Vogel abgeschossen hat zuletzt Wolfram Henn. Der Mann ist Humangenetiker in Saarbrücken. Er fordert in der bekannten wissenschaftlichen Fachpublikation „Bild“-Zeitung, dass jeder, der sich nicht gegen Corona impfen lässt, im Krankheitsfall auch auf jede Notfallbehandlung verzichtet. Forschungserkenntnisse, die er seit Beginn der Pandemie zur Debatte beisteuert: null, nada, nothing.
Wenn Sie sich jemals gefragt haben sollten, was jemanden dazu qualifiziert, Mitglied im Deutschen Ethikrat zu werden: voilà.
Fakten zu sammeln und auszuwerten:
Das ist Aufgabe der Wissenschaft. Das ist die akademische Domäne, da sollten sich Laien zurückhalten. Aber welche gesellschaftlichen Schlüsse wir aus den ausgewerteten Fakten ziehen, ist eine politische Entscheidung. Und an der sind in der Demokratie alle gleichberechtigt zu beteiligen.
Natürlich ist die Debatte emotional, weil es für einige Menschen tatsächlich um Leben und Tod geht. Aber wir machen es uns zusätzlich und unnötig schwer, weil wir darauf verzichten, Wissenschaft und Politik trennscharf auseinanderzuhalten. Christian Drosten zum Beispiel liefert unbestreitbar viel wertvolle Erkenntnis, aber eben auch viel Meinung. Für Virologen wie ihn ist es das oberste, ja geradezu das einzige Ziel, die Verbreitung eines Erregers zu verhindern.
Das kann man durchaus nobel finden, aber es ist undemokratisch (und auch in der Wissenschaft keineswegs unumstritten).
Denn das ist eine dieser modernen Lebenslügen:
Dass der Schutz des Lebens in unserer Gesellschaft die alleinige oberste Priorität habe. In Wahrheit nehmen wir täglich zugunsten des Funktionierens unseres Landes Todesfälle in Kauf: im Straßenverkehr, auf Baustellen und sogar im Gesundheitswesen. Durch Krankenhauskeime sterben jedes Jahr 20.000 Menschen, ohne dass die Kanzlerin ein Krankenhauskeim-Kabinett berufen oder entsprechende Notgesetze durchgedrückt hätte – obwohl man dieses Problem allein mit Geld lösen und 20.000 Menschen jährlich (!) ganz ohne Lockdown retten könnte.
In Wahrheit ist es ein demokratischer Aushandlungsprozess, welche Lebensrisiken wir für welchen Lebensstil einzugehen bereit sind und wie viel Geld wir für wie viel Sicherheit ausgeben wollen. Das gilt auch für Corona.
'Das Virus besiegen'…
… verlangt, zu Ende gedacht, dass wir das Land komplett zusperren, die Wirtschaft auf null fahren und soziale Kontakte außerhalb der eigenen vier Wände völlig verbieten – und zwar dauerhaft. Nur dann lässt sich die Verbreitung der Seuche halbwegs verlässlich stoppen. Das ist radikal, und es ist undemokratisch.
„Es ist vielleicht kein Zufall, dass diese Meinung oft von Leuten vertreten wird, die bei einem öffentlichen-rechtlichen Sender beschäftigt sind, also im Quasi-Beamtenverhältnis stehen. Oder die schon in Rente sind. Oder wie Lauterbach in der Politik und damit ebenfalls der Gefahr des direkten Jobverlustes enthoben.“
(Jan Fleischhauer – am 19. Dezember 2020)
Mal abgesehen von der Frage, ob eine Gesellschaft wirklich funktioniert wie ein Sozialautomat, bei dem man oben den Knopf „Kontaktreduzierung“ drückt – und unten wird dann der Inzidenzwert „sieben“ vom Automaten ausgeworfen (Frank Lübberding).
'Mit dem Virus leben'…
… ist ein völlig anderer Ansatz, der versucht, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen in der Gesellschaft zu finden: zwischen den physischen und den ökonomischen Lebensgrundlagen, zwischen dem Sicherheitsbedürfnis einiger Bürger und dem Freiheitswunsch anderer.
„Es geht gerade um nicht weniger als unseren Lebensinhalt, unsere Existenz und damit unsere Zukunft und die unserer Mitarbeiter und deren Familien.“
Das schreibt Heike Richter aus Irschenberg, deren Familie die Dinzler Kaffeerösterei AG mit 200 Mitarbeitern betreibt. Das Unternehmen ist vom Lockdown hart getroffen. Ziemlich genau zwei Drittel aller Corona-Todesopfer in Deutschland waren über 80 Jahre alt. Die Altersgruppe macht knapp fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Es ist weder zynisch noch unredlich zu fragen, ob man zum besonderen Schutz von fünf Prozent der Bevölkerung nicht vielleicht auch Lösungen finden könnte, die nicht zum schlimmsten Wirtschaftseinbruch seit 50 Jahren führen.
Die Debatte darüber, wie wir in Deutschland mit dem Virus umgehen sollen, ist gerade auch deshalb so vergiftet, weil unsere Medien ständig die Experten nach deren Meinung fragen und die Politiker ständig nach Fakten.
Umgekehrt wäre es sinnvoll.
Alexander Fritsch, Jahrgang 1966, studierte Volkswirtschaft und Philosophie in Frankreich und Deutschland und arbeitet seit 25 Jahren als Journalist. Außerdem berät er als Business Coach Unternehmen und Verbände, vorrangig bei den Themen Kommunikation und Strategie.
Text: Gast